SYRIEN: Brief einer Leserin

von FCE, 14.07.2025, Veröffentlicht in Archipel 349

Wir veröffentlichen hier die Reaktion einer treuen Leserin auf den Artikel von Amalia van Gent, der in der letzten Ausgabe von Archipel erschienen ist1. Wir sind uns voll und ganz bewusst, dass es sich in Syrien um eine äusserst komplexe Situation handelt, die sich täglich weiterentwickelt. Mit den verschiedenen, sich ergänzenden Artikeln, möchten wir unseren Leserinnen und Lesern Anhaltspunkte liefern, um sich ihre eigene Meinung bilden zu können.

«Ich verlasse mich in der Regel auf die Informationen in Archipel, dem Sprachrohr eines unabhängigen und seriösen Journalismus. Umso überraschter war ich, als ich den Artikel von Amalia van Gent «Syrien – ein Land auf der Kippe»[1] las, der auf den Artikel von Félix Legrand[2] über die politische Entwicklung der HTS folgte. Während Legrand eine detaillierte und differenzierte Analyse des Prozesses liefert, welcher HTS und seine Verbündeten an die Macht gebracht hat, beschränkt sich van Gent auf die Beziehungen Damaskus’ zu den Kurden in Rojava, die Massaker in der Region Latakia und in Damaskus sowie den Verfassungsentwurf.

Ich bin gerade von einem dreiwöchigen Besuch in Syrien zurückgekehrt (meinem ersten seit 2006), wo ich in Damaskus, Aleppo, Hama und Homs war. Die Syrer kommen aus einem 50-jährigen Albtraum unter der Assad-Dynastie und man spürt zunächst ein Gefühl der Freiheit, das für Ausländer dadurch symbolisiert wird, dass man kein Visum mehr braucht; man zeigt seinen Pass an der Grenze vor, um einen Stempel zu bekommen, wie man es in der Schweiz macht. Die Freude der Syrer, die in ihr Land zurückkehren, ist spürbar. Ein Plakat an der Grenze verkündet: «Syrien gehört uns – uns allen» (Souriya ilna – ilna kullna). Angesichts dieser Aussage ist es nur logisch, dass die Assad-Bibliothek in Damaskus in Nationalbibliothek umbenannt wurde und das Assad-Universitätskrankenhaus nun Nationales Universitätskrankenhaus heisst.

Es besteht der Wille, die verschiedenen Gemeinschaften in wichtige Ereignisse einzubeziehen. Bei einer Zeremonie zu Ehren der Getöteten und Verwundeten der Kämpfe um Damaskus, an der ich im grossen Hörsaal der Nationalbibliothek teilnahm, gehörten zu den Würdenträgern, die die Urkunden überreichten, vier Männer in Zivil, ein Imam und ein orthodoxer Priester.

Die Mukhabarat, der Geheimdienst des Assad-Regimes, ist verschwunden, ebenso wie die Shabbiha, die brutalen Schergen der Assads, die Besucher mit Kalaschnikows in den Hotels empfingen. Ausländische Entwicklungshilfeorganisationen können nun direkt mit ihren syrischen Partnern Kontakt aufnehmen. Bei einigen ist die Angst noch immer präsent: Eine Person, die wir in Hama trafen und die das Massaker von 1982 miterlebt hatte, wollte nicht erzählen, was sie gesehen hatte. Eine temporäre Ausstellung im Nationalmuseum von Damaskus (einer Stiftung aus der Zeit vor Assad), die Teil des 2013 begonnenen Projekts «Kreative Erinnerung an die syrische Revolution»[3] ist, zeigt Zeichnungen, Gedichte, Porträts der Verschwundenen und andere Bilder, die den Ausbruch der Kreativität während der Jahre des Krieges und der Unterdrückung dokumentieren. Es handelt sich um eine unverzichtbare Massnahme zur Bewahrung der Gegenwart und Vergangenheit und zur Gestaltung einer gerechten Zukunft für alle.

In Syrien sieht man viele Ruinen und Trümmer. Einige, wie in Homs zu Beginn der Revolution, wo mit Artillerie gekämpft wurde, erinnern an das Beirut des Bürgerkriegs. Andere, zum Beispiel in Aleppo, wo die Russen Luftangriffe durchgeführt haben, erinnern eher an Gaza. Aber der Wille zum Wiederaufbau ist da. In den zerstörten Gassen der Altstadt von Aleppo arbeiten die Schmiede und Tischlereien wieder, und einige Geschäfte bereiten sich auf den Empfang von Touristen vor. Die Männer, die 2012 vor dem Militärdienst geflohen sind, kehren mit ihren EU-Pässen zurück, um ihre Rückkehr ins Land vorzubereiten. Lastwagen, beladen mit dem gesamten Hab und Gut der Familien, überqueren langsam die Grenze vom Libanon nach Syrien – Flüchtlinge, die nach Hause zurückkehren.

Die von Amalia van Gent (und Anderen) geäusserten Bedenken hinsichtlich der Verfassung und der Gefahr des Autoritarismus sind durchaus berechtigt. Die Spannungen zwischen den Gemeinschaften sind nicht verschwunden, auch wenn sie mit Bedacht gehandhabt werden. So hat die kurdische Enklave Shaikh Massoud in der Nähe der christlichen Friedhöfe in Aleppo nach wie vor eigene Kontrollpunkte, an denen neben der syrischen Flagge auch die kurdische Flagge weht. In einem im April unterzeichneten Abkommen zwischen der syrischen Regierung und den kurdischen Kräften soll diese Enklave jedoch schrittweise wieder unter die Kontrolle der Regierung gebracht werden, wobei sie eine gewisse Autonomie behalten soll.

Syrien steht derzeit vor enormen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen. Aber nach dem Sturz der Assads wurden viele Energien frei – daraus schöpft das Land grosse Kraft. Niemand denkt daran, zu der Situation vor Dezember 2024 zurückzukehren, als Bashar al-Assad chemische Waffen gegen seine eigene Bevölkerung einsetzte und historische Schätze wie die Souks von Aleppo zerstörte. Herausforderungen, ja; Gefahren, wahrscheinlich, auf der Kippe, nein.

Hilary Kilpatrick zurück aus Syrien am 1. Juni 2025

  1. Archipel, Juni 2025

  2. Archipel Mai und Juni 2025

  3. www.creativememory.org/fr