ÖSTERREICH: Experimentierfeld der extremen Rechten

de Michael Genner Obmann, Asyl in Not Wien, 1 oct. 2019, publié à Archipel 285

Dieser Artikel wurde vor den österreichischen Parlamentswahlen geschrieben. Leider war es bereits Mitte September klar, dass die vorgezogenen Wahlen keine Entschärfung der restriktiven Flüchtlingspolitik mit sich bringen werden und sich, von Seiten der Regierung, in der Migrationspolitik kaum etwas ändern wird. Ich bin seit 1989 als Rechtsberater für Asylsuchende tätig, zuerst beim Flughafensozialdienst und seit 1993 bei Asyl in Not, einer NGO neuen Typs, die zu meiner Zeit eine Speerspitze der Asylbewegung in Österreich geworden ist. In allen diesen Jahren habe ich viele Regierungen kommen und gehen gesehen. Das Unrecht haben wir stets bekämpft und Schuldige beim Namen genannt. Manchmal mit, manchmal ohne Erfolg, aber immer kompromisslos konsequent. So gehörten wir zu den Vorreitern der grossen Fluchthilfebewegung des Jahres 2015, als es der Zivilgesellschaft gelang, die Grenzen zu öffnen und zehntausenden Menschen den Zugang zu einem Leben in Freiheit und Sicherheit, zumindest für einige Jahre, zu ermöglichen. Ein geschichtlicher Augenblick, als die Menschen in diesem Land erkannten, dass das Organisieren gesellschaftlich notwendiger Prozesse ohne staatliche Eingriffe viel besser funktioniert: Unser kurzer September der Anarchie. Dieser Rückblick auf unerwartete, hart erkämpfte Erfolge ist nötig, um zu verstehen, was seither geschah. Denn gleich darauf kam der Gegenangriff des Systems, wie nicht anders zu erwarten. Das Imperium schlug zurück.

«Konzentrationsorte»

In Österreich gab es seit 2016/17 massive Verschärfungen. Sie begannen noch unter der rot-schwarzen Regierung, wurden fortgesetzt und ins Extreme gesteigert unter Türkis-Blau, gingen aber auch ungehindert weiter unter der sogenannten Expertenregierung, die uns bis zur nun bald bevorstehenden Wahl ruhigstellen und niederhalten sollte. Das Gesetz, das Notverordnungen möglich macht, wurde noch unter Rot-Schwarz beschlossen, Türkis-Blau ging einen grossen Schritt weiter mit den vom «freiheitlichen» Polizeiminister Kickl eingeführten «Konzentrationsorten», so zum Beispiel das Anhaltezentrum Fieberbrunn am Bürgelkopf in Tirol, über das wir eine breite Öffentlichkeit informierten. Fieberbrunn ist ein entsetzlicher Ort, Menschen werden weitab von jeder Zivilisation, jenseits der Baumgrenze, ohne öffentliche Verkehrsmittel, viele Stunden Fussmarsch vom nächsten Haus entfernt, festgehalten. Ohnedies schon schwer traumatisierte Menschen werden dort neuerlich traumatisiert. Asyl in Not hat im Bund mit der Tiroler Zivilgesellschaft diese Zustände aufgedeckt und eine Kampagne für die Schliessung dieses Schandflecks begonnen. Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich, verurteilte die Verschickung von Menschen nach Fieberbrunn als «Akt bösartiger Behördenwillkür». Ein Beamter, den wir namentlich angriffen, weil er einen afrikanischen Asylwerber kurz vor Weihnachten aus seinem sozialen Umfeld herausreissen und nach Fieberbrunn deportieren wollte (eine Massnahme, die wir durch unsere Rechtsmittel vereiteln konnten), hat uns gerichtlich angeklagt; Asyl in Not wurde zu einer Geldstrafe von 1‘500 Euro verurteilt, unser Anwalt Dr. Pochieser hat dagegen Berufung eingebracht. Derartige Verfolgungsmassnahmen gegen die Zivilgesellschaft gehören zum herrschenden System dazu. Wenn man diese Methoden einreissen lässt, kommt eine NGO nach der anderen dran.

Radikale Solidarität ist gefragt

Den Kampf gegen Türkis-Blau haben wir gerne aufgenommen. Polizeiminister Kickl war für uns ein Wunschgegner, natürlich! Aber die jetzigen… Was hat man uns denn da vorgesetzt, nachdem die üblen korrupten Pläne der FPÖ in Ibiza bekannt geworden waren? Einmal mehr hatten wir es mit einem massiven Werteverfall in den Reihen der Linken zu tun. Wir warnten von Anfang an vor den völlig unbegründeten Erwartungen mancher Teile der Zivilgesellschaft. Manche hielten es ja schon für einen gewaltigen Fortschritt, dass mit der neuen Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein erstmals eine Frau an der Spitze der Regierung stand… Brigitte Bierlein war vorher Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes und verantwortlich für unzählige skandalöse Fehlentscheidungen, die das Menschenrecht auf Asyl aushebelten. Eine ihrer ersten Amtshandlungen als Bundeskanzlerin war, Manfred Matzka zu ihrem Chefberater zu ernennen. Manfred Matzka! «Der furchtbare Jurist». So nannten wir ihn in den Neunzigerjahren. Er war der Spiritus rector der rassistischen Gesetze der Löschnak-Zeit (Asylgesetz 1991, Fremden- und Aufenthaltsgesetz 1992/93). Kein Wunder, dass sich mit ihm als Chefberater der Regierungschefin an der rassistischen Antiasylpolitik des österreichischen Staates nichts geändert hat. Dementsprechend gingen die Abschiebungen nach Afghanistan und in die Türkei ungeniert weiter. Somit wird immer klarer, dass der Kampf gegen das Unrecht nicht mit juristischen Mitteln allein geführt werden kann, sondern nur durch Verbindung mit politischem Kampf Aussicht auf Erfolg hat. Daher ist es auch nicht das Hauptproblem, dass die grossen Organisationen ihre Förderungen verlieren sollen, die sie bisher für Rechtsberatung erhielten. Die bisherige, staatlich finanzierte Rechtsberatung ist seit langem an die Grenzen ihrer Wirksamkeit gestossen. Mehr denn je kommt es nun darauf an, die Kräfte der Zivilgesellschaft zur radikalen Solidarität zu formieren.

Skrupellose Beamte

Dass Afghanistan nicht sicher ist, gilt in der Zivilgesellschaft mittlerweile als selbstverständlich; es gab viele, von allen NGOs getragene Kampagnen gegen die Abschiebungen in dieses Kriegsgebiet. Der Kampf gegen die mindestens gleich skandalösen Abschiebungen in die Türkei, aber auch gegen die in Österreich weit verbreiteten Spitzeldienste des türkischen Regimes, bleibt aber fast schon ein Alleinstellungsmerkmal von Asyl in Not.Viele Entscheidungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG), betreffend kurdische Asylsuchende aus der Türkei, strotzen von Menschenrechtswidrigkeiten und zeigen eine ungenierte Komplizenschaft mit dem türkischen Erdogan-Regime. So wies ein Referent des BFA den Asylantrag des jungen kurdischen Aktivisten Aslan1, dem in der Türkei wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren und drei Monaten droht, mit der Begründung ab, er sei ja von der türkischen Justiz verurteilt worden! Die PKK sei eine terroristische Organisation, die Türkei hingegen ein Rechtsstaat. Der Referent ging so weit, Aslan vorzuwerfen, er habe auch in Österreich, wo er seit 2016 auf eine Asylentscheidung wartete, seine «terroristische» Tätigkeit fortgesetzt; er sei nämlich für den kurdischen Dachverband FEYKOM aktiv und sogar Vorstandsmitglied eines (legalen!) kurdischen Vereins. FEYKOM sei eine Drehscheibe der Aktivitäten der PKK in Österreich, so das BFA. Tatsächlich ist FEYKOM eine angesehene, legale Organisation, die auch von Kräften der gesellschaftlichen Mitte unterstützt wird; zum kurdischen Neujahr (21. März 2019) hielt FEYKOM auf Einladung des Wiener Bürgermeisters Ludwig eine Festveranstaltung im Rathauskeller ab, bei der Altbundespräsident Heinz Fischer und der SPÖ-Klubchef im Europaparlament, Andreas Schieder, Festreden hielten – durchwegs Terrorsympathisant·inn·en nach Ansicht des BFA. Das BFA wies Aslans Asylantrag in allen Punkten ab, erkannte einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab, sodass Aslan jederzeit deportiert und ins türkische Gefängnis hätte gesteckt werden können, und verhängte über ihn ein zehnjähriges Einreiseverbot. Asyl-in-Not-Geschäftsführerin Kübra Atasoy brachte Beschwerde gegen diesen Skandalbescheid ein, mit dem Zwischenerfolg, dass das BVwG die aufschiebende Wirkung zuerkannte. Den schuldigen Beamten prangerten wir öffentlich an, worauf er uns mit einer Klage drohte. Als derselbe Herr nun auch noch im Asylverfahren eines anderen kurdischen Flüchtlings als Referent auftreten wollte, lehnte ich ihn in einem ausführlichen Schriftsatz wegen politischer Befangenheit ab; es sei klar, dass er die Ansichten des Verfolgerregimes in der Türkei zu seinen eigenen gemacht habe. Meinem Befangenheitsantrag gab die Vorgesetzte dieses Beamten statt und übernahm selber den Fall. Ein Zwischenerfolg. Der Bankrott des bürgerlichen «Rechtsstaates» zeigte sich auch in einer ohne Verhandlung ergangenen Erkenntnis des BVwG, betreffend Hüseyin(1), einem weiteren kurdischen Asylbewerber aus der Türkei. Dieser war wegen seiner oppositionellen Tätigkeit über Jahre hinweg immer wieder verfolgt, misshandelt und gefoltert worden. Einen Arztbefund über seine eingeschlagenen Zähne legten wir vor. Das BVwG wies seine Beschwerde mit der Begründung ab, er habe bei der kurzen polizeilichen Erstbefragung gleich nach seiner Ankunft in Österreich nichts, und bei der darauf folgenden niederschriftlichen Befragung durch das BFA nur wenig über die Folter gesagt, die er erlitten hatte! Für uns (wie für alle, die nur die geringste Ahnung haben, wie es Folteropfern geht!) war völlig klar, dass Hüseyin bei diesen Befragungen einfach nicht in der Lage war, über die Folter zu sprechen.

Türkisblaue Entfaltung

Der Verfassungsgerichtshof hatte schon 2004 festgestellt, dass Asylsuchende bei ihrer Ankunft oft traumatisiert und nicht in der Lage sind, umfassend über das Erlittene zu berichten; daher komme der polizeilichen Erstbefragung, aber auch der erstinstanzlichen Befragung nur ein geringerer Stellenwert zu. Das Asylgesetz enthält seit dieser Entscheidung, wohlgemerkt, kein grundsätzliches Neuerungsverbot!2 Weiters sieht eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2013 vor, dass Asylwerber·innen, die vorbringen, gefoltert worden zu sein, besondere Verfahrensgarantien brauchen, und dass ihnen vor der erstinstanzlichen Entscheidung ausreichend Zeit gegeben werden muss, um die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, damit sie das Verfahren effektiv in Anspruch nehmen können; im Klartext: Sie müssen erst einmal zur Ruhe kommen, bevor sie zur Folter befragt werden!3 Über diese unmissverständlichen Regeln setzen sich BFA und BVwG permanent hinweg. Unserer Beschwerde gegen diese empörende Erkenntnis des BVwG hat der Verfassungsgerichtshof mittlerweile die aufschiebende #Wirkung zuerkannt. Das waren jetzt ein paar Beispiele für die Verwahrlosung der Judikatur in Österreich. Sie beruhen nicht nur (aber auch) auf Charaktermängeln der in diesen Fällen entscheidenden Personen, sondern auf der fortschreitenden Beeinflussung, Kontrolle und Unterwanderung der Behörden und Gerichte durch den tiefen, reaktionären Staat, der unter Türkis-Blau zu besonderer Entfaltung gelangte. Was Ex-Innenminister Kickl postulierte, ist längst schon Wirklichkeit: Das Recht folgt der Politik. Somit ist Österreich (ähnlich wie Ungarn und Polen) zum Experimentierfeld der extremen Rechten und des tiefen Staates geworden. Bundeskanzler Bruno Kreisky warnte in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts vor einer ernsten Gefahr: Da Österreich über kein demokratisch gefestigtes Bürgertum verfüge, könne es parallel zu den Zwanzigerjahren schnell zu einer Allianz zwischen grossen Teilen des Sicherheitsapparates und politisch reaktionären Kräften kommen. Diese Warnung ist heute aktueller denn je. Zu der Zeit, wo ich dies schreibe, ist der Ausgang der bevorstehenden Parlamentswahl ungewiss. Möglich ist eine neue, noch schlimmere Variante von Türkis-Blau, wobei es belanglos ist, ob gerade Kickl wieder Innenminister wird oder ein anderer Handlanger einer menschenrechtsfeindlichen Politik. Gegen diese werden wir Widerstand leisten, mit all unserer Kraft. Es kann aber auch zur Einbindung halb- oder pseudolinker Parteien kommen, denen zuzutrauen wäre, für ihre Teilhabe an der Regierung die Menschenrechte der Geflüchteten und Eingewanderten über Bord zu werfen. Auch dagegen werden wir aufstehen. Regierungen kommen und gehen, Asyl in Not bleibt bestehen.

www.asyl-in-not.org

  1. Name geändert
  2. VfGH vom 15.10.2004, G 237/03
  3. Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes