EUROPA PGA: Zwischen Chaos, ersten Versuchen und einer Strukturierung

de Cédric Bertaud (EBF/Frankreich), 6 nov. 2004, publié à Archipel 119

Vom 23. bis 29. Juli fand in Belgrad die 3. europäische Konferenz des Peoples-Global-Action-Netzwerkes (PGA) statt. Zum ersten Mal geschah dies nicht in einem westeuropäischen Land und ermöglichte somit Bewegungen aus dem ehemaligen Ostblock eine zahlreiche Teilnahme. Zu dem Treffen kamen zwischen 400 und 500 Personen, um über Wege und Möglichkeiten eines Ausbaus und der Strukturierung dieses antikapitalistischen und antiautoritären Netzwerkes zu diskutieren.

Eine der Grundlagen von PGA besteht in seiner Vielfältigkeit, gestützt auf einige politische und organisatorische Prinzipien sowie auf die Idee, einen Raum weit weg von der Logik hierarchischer Bewegungen, Parteien, Gewerkschaften, NGOs und anderen Organisationen zu schaffen.

Zur Geschichte

Im Laufe ihrer noch jungen Geschichte hat diese Plattform bereits für einige überraschende Aktionen gesorgt und einen Raum für Treffen und zur Koordination geschaffen. Abgesehen vom speziellen Belgrader Umfeld, auf das ich später noch zu sprechen komme, bestand die Besonderheit dieser Konferenz in dem Versuch, eher tief grei-fende Debatten zu führen, anstatt sich mit der Koordinierung kurzfristiger Zielsetzungen zufrieden zu geben. Das PGA begann 1998 seine Auseinandersetzungen mit großen und bis dahin in der Öffentlichkeit kaum bekannten Institutionen, die, eingeschlossen in ihrem Elfenbeinturm, das tägliche Leben von Millionen Menschen bestimmen. Diese Dynamik, die unter anderem die Machenschaften von WTO, IWF, Weltbank oder G8 entlarvte, erreichte ihren medialen Höhepunkt mit dem Scheitern der Ministerialkonferenz der WTO im November 1999. Ein Fiasko, das vor allem in den vielen dezentralisierten direkten Aktionen begründet liegt, auch wenn noch andere Faktoren eine Rolle spielten. Durch diesen Erfolg, der untrennbar mit den modernen Organisationsmethoden verbunden ist, die das Internet hervorgebracht hat, entwickelte sich eine Eigendynamik von Gegengipfeln, die für Aktivisten zu einem verpflichtenden Termin wurden, um den Machtoberen die Stirn zu bieten. Mit der Zeit wurde es dringend notwendig, diese Art von Kritik und «purem Aktivismus» in Frage zu stellen (von einer Aktion zur nächsten zu hetzen, ohne sich die Zeit zum Verschnaufen zu nehmen und nach dem Sinn des Ganzen zu fragen). Dieser Problematik konnte seit 2001 nicht mehr ausgewichen werden.

Einige Themen

In diesem Sommer wurden erstmals neben den Grundsatzdebatten noch zusätzliche Workshops zur Vorstellung lokaler Initiativen, Vorbereitung von Kampagnen und anderes angeboten. Im Besonderen war ein ganzer Tag der ­sozialen Stellung der Geschlechter und ihrer Infragestellung gewidmet. Ein anderer Themenkreis befasste sich mit der Arbeit, den Arbeitsbedingungen und Kämpfen in bestimmten Betrieben und war zugleich eine Einführung in die Kritik der globalen Industrialisierung. Wie sehr oft gestaltete sich diese Problematik recht polemisch. Alle nutzen die Vorteile dieser Verkünstlichung des Lebens, ohne sich ernsthaft die Frage nach dem unwiderruflichen Verlust einer möglichen Autonomie zu stellen, die in Wirklichkeit an diese «Vorteile» gebunden ist.

Wir haben auch an einem Workshop über die Rolle des Internets in derartigen Netzwerken teilgenommen. Um auf internationaler Ebene sei es eine Konferenz wie die von Belgrad oder irgendeinen Gegengipfel zu organisieren, nutzen wir das Internet sowie Computer, ohne jemals ­deren Gebrauch zu hinterfragen, seine sozialen, ökologischen oder politischen Auswirkungen. Computer und Internet sind in diesen militanten Kreisen der­maßen integriert, dass bereits mit der einfachen Frage danach ein Heiligtum angetastet und dies mitunter gar als Ketzerei angesehen wird.

Welche ­ Organisationsform?

Parallel zu diesen eher theoretischen Debatten fanden während der ganzen Woche abwechselnd zwischen Vollversammlungen und kleinen Diskussionsgruppen intensive Überlegungen zu Inhalten und Strukturen des PGA statt.

Zusammenfassend, selbst auf die Gefahr hin, etwas zu karikieren, würde ich sagen, dass Divergenzen und Debatten sich zwischen Personen abspielten, die das PGA praktisch in eine traditionelle Organisation umwandeln wollen (eine Art dritter Weg und kaum radikaler als die politischen Parteien und sozialen Foren), sowie denjenigen, die von lokalen Realitäten ausgehen möchten und diese eher auf einer horizontalen Ebene mit größtmöglicher Teilnahme verstärken und strukturieren wollen. Ich war unangenehm überrascht zu sehen, welchen Enthusiasmus die Reflexion und Debatte über die Transparenz des PGA und die Beziehungen zu anderen Organisationen wie Gewerkschaften, Sozialforen hervorrief, wie als eine Art Rechtfertigung, aus dem «Aktivisten-Ghetto» auszubrechen. Ich bin völlig einverstanden, dass es nötig ist, dieses Ghetto zu sprengen. Doch würde ich dazu niemals die Kontaktaufnahme zu jenen Organisationen suchen, die zur Stärkung dieser Ghettoisierung beitragen. Unsere alltäglichen Handlungen müssen dynamisch genug sein, um in sich selbst das Potential einer Erweiterung unserer Praktiken, unserer Ideen zu tragen und somit diese direkt an die Bevölkerung weiterzugeben, ohne auf Repräsentanten zurückgreifen zu müssen, wer immer sie auch sein mögen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es möglich sein soll, Organisationen, welche Zentralisierung, Hierarchie und Delegierung auf ihre Fahnen geschrieben haben, anzustecken oder zu «radikalisieren»; sie zu Autonomie und Horizontalität hin zu bewegen.

Entscheidungen treffen

Am letzten Tag mussten wir über die während einer Woche ausgearbeiteten Vorschläge zur weiteren Strukturgestaltung von PGA entscheiden. Beschlüsse mit 300 Leuten zu fassen, ist eine schwierige Aufgabe und wir nutzten dazu einen spoke council\. Inspiriert von den erprobten Methoden im Spanienkrieg, ist der spoke council eine erstaunliche Art, Entscheidungen zu treffen. Im Saal setzten sich die Sprecher der verschiedenen Gruppen im Kreis zusammen, in ihrem Rücken jeweils ihre Gruppe, die sie vertreten. Einzig und allein die Sprecher diskutieren die Vorschläge, versuchen sie voranzubringen und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Dies geschieht jedoch in völliger Interaktion mit ihrer jeweiligen Gruppe, die jederzeit intervenieren und verlangen kann, dass eine Position genauer erklärt wird. Außerdem sind die Sprecher Bewahrer des vorhergehenden Konsenses ihrer Gruppe. Diese Vorgehensweise, die eine wirkliche Teilnahme jedes Einzelnen ermöglicht, ist viel effizienter als eine Vollversammlung, bei der es eine ordentliche Portion Courage braucht, um dort seine Meinung vor so vielen Leuten zu äußern. Zudem verhindert der spoke council * die Dominanz von Worthelden, und für eine Premiere war ich von dieser Methode absolut begeistert.

Eine selbstverwaltete Konferenz

So viel zum allgemeinen Inhalt der Konferenz, doch darf darüber nicht die praktische Organisation und der besondere Kontext dieser intensiven Tage vergessen werden. Die Grundidee bestand darin, eine im höchstmöglichen Grade selbstverwaltete Konferenz mit Leuten durchzuführen, die für die verschiedenen Bereiche verantwortlich waren: Sicherung des Lagerplatzes, erste Hilfe, Verpflegung, Abfallentsorgung usw. Auch hier kann man gewisse Unterschiede oder unterschiedliche Prioritäten zwischen Personen und Gruppen wiederfinden, von denen die einen meinen, dass alltägliche Aufgaben ebenso wichtig sind wie ein gedruckter Artikel in den großen Medien, und die anderen nicht. Die Beteiligung funktionierte dennoch nicht schlecht, und es ist immer eine Bereicherung, Leute vom anderen Ende des Kontinents beim Kartoffelschälen oder gemeinsamer Nachtwache kennen zu lernen...

Das Problem der Sicherheit war omnipräsent, denn wir Anarchisten aus ganz Europa trafen uns in einer Stadt mit einer enormen nationalistischen Vergangenheit. Diese Tatsache hat ganz konkreten Einfluss und ist bei einem Teil der serbischen Bevölkerung nicht spurlos vorübergegangen. So erlebten wir Personen, die uns den Hitlergruss zeigten, fremdenfeindliche Graffiti und andere Provokationen. Diese allgemeine Stimmung ließen Paranoia und eine tägliche Spannung entstehen, die glücklicherweise jedoch keinen Einfluss auf die Qualität des Treffens hatten.

Cédric Bertaud

EBF/Frankreich

*spoke bedeutet Speiche. Der spoke council platziert sich im Raum wie ein Rad; mit Sprechern, welche die «Nabe» besetzen und jede Gruppe stellt eine Speiche dar.