Ein wegweisendes Urteil ist in Frankreich im sogenannten «Budapest Komplex»[1] ergangen: Der Pariser Berufungsgerichtshof beschloss am 9. April 2025 das Auslieferungsersuchen Ungarns im Fall des Antifaschisten Gino Abazaj abzulehnen.
Es ist der zweite Abschiebestopp im Kontext der europaweiten Verfolgung von Antifaschist·innen, die 2023 gegen den Neonazi-Event «Tag der Ehre» in Budapest protestierten. Die Ablehnung eines Haftbefehls zwischen Ländern in der EU ist in unserem hochgelobten «Raum der Freiheit und des Rechts» eine Seltenheit. Im Fall von Ungarn muss sie allerdings zur Regel werden. Seit dem Ratsbeschluss von 2002 verpflichten sich die Staaten der EU zur weitreichenden Zusammenarbeit in Sachen Auslieferungen. Nach dem «Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung» erfolgen in Fällen «schwerer Straftaten» jährlich tausendfach vereinfachte Abschiebungen auf der Grundlage des «Europäischen Haftbefehls» (EuHB). Doch die weitgehend automatische Kooperation bedarf strenger Rahmenbedingungen, die Budapest nicht erfüllt.
In Gino Abazajs Fall folgte die Pariser Justiz dem Gerichtshof von Mailand, der vor einem Jahr die Auslieferung des Antifaschisten Gabriele Marchesi nach Budapest abgelehnt hatte. Die Richter·innen stellten damit fest, dass Ungarn gegen zentrale Werte der europäischen Menschenrechtskonvention verstösst. Das Gericht bezweifelt ernsthafte Bemühungen zur «Verhinderung von Folter» und die Erfüllung des Anspruchs auf ein «faires Verfahren». Untragbare Haft- und Prozessbedingungen im «Budapest-Komplex» wurden zuvor durch Berichte inhaftierter Antifaschist·innen und ihrer Unterstützer·innen belegt. Bilder von Gefangenen, mit Fussfesseln und an einer Leine (wie ein gefährliches Tier) im Gerichtssaal vorgeführt, schockierten die Öffentlichkeit.
Die Diffamierung von Andersdenkenden und die Normalisierung neofaschistischer Agitation ist ein wesentlicher Bestandteil des Diskurses der in Ungarn herrschenden Fidesz-Partei. Jene, die in Budapest jährlich dem Nationalsozialismus huldigen, werden als «unbescholtene Bürger und Bürgerinnen» abgetan und Antifaschist·innen dagegen als «Kriminelle» diskreditiert. Hier wird eine unverschämte Verharmlosung des Nationalsozialismus betrieben und gleichzeitig der Antifaschismus zum Schreckensgespenst aufgebaut, der zum Zweck der internationalen Verfolgung sogar mit «Terrorismus» gleichgesetzt wird. Es findet eine Vorverurteilung statt und der «Europäische Haftbefehl» wird missbraucht. Und auch jenseits des «Budapest-Komplexes» ist Ungarn bemüht, das Recht politisch zu beugen. Das Verbot eines Christopher-Street-Days oder die Absage an die Einhaltung der Statuten des internationalen Strafgerichtshofs sind nur die jüngsten Beispiele dafür. Victor Orbán macht Ungarns Justiz zum Instrument seiner Wahlautokratie.
Es gibt mittlerweile genügend Argumente, um Auslieferungen nach Ungarn nicht zuzustimmen. Doch auch eine Aneignung und Durchführung dieser Verfahren durch andere europäische Gerichte ist mehr als fraglich, denn es handelt sich um politische Motive, die am Ursprung der Ermittlungen stehen. In den Prozeduren werden europäische Rechtsnormen verkannt. Wenn Ungarn aus den Auseinandersetzungen am Rande des «Tages der Ehre» «versuchten Mord durch eine kriminelle Vereinigung» konstruiert, erscheint das als ähnlich unseriös, wie wenn die Justiz im Fall Ginos noch vor Eröffnung des Verfahrens schreibt: «Herr Abazaj wird seine Haft im Budapester Zentralgefängnis verbüssen».
Mit überschaubarem Erfolg fahnden deutsche Behörden in diesem Zusammenhang seit Jahren für Orbáns Justiz, um weitere EU-Haftbefehle zu vollstrecken. Sieben Antifaschist·innen in Deutschland stellten sich im Januar dieses Jahres freiwillig, um der Verfolgung durch Ungarn zu entgehen. Trotzdem müssen sie aktuell eine Abschiebung nach Ungarn befürchten. Doch der Rückbau rechtsstaatlicher Standards und die ohrenbetäubende Hetze der Orbán-Administration gegen soziale Bewegungen sollten auch deutsche Behörden wachrütteln. Die wiederholt belegten systemischen Mängel in der ungarischen Justiz müssen bei künftigen Beschlüssen berücksichtigt werden und lassen nur einen Schluss zu: Freiheit für alle AntifaschistInnen!
Luc Śkaille, Radio Dreyeckland
1.Als «Budapest-Komplex» werden die Ereignisse im Februar 2023 rund um den von Neonazis begangenen «Tag der Ehre» in Budapest sowie die darauffolgenden Entwicklungen bezeichnet. Antifaschistischen Aktivist·innen wird vorgeworfen, sie hätten Neonazis tätlich angegriffen. Dies führte zu Fahndungen nach den Beschuldigten in mehreren Ländern Europas und zur – laut dem deutschen Bundesverfassungsgericht – rechtswidrigen aber trotzdem stattgefundenen Auslieferung von Maja T. nach Ungarn. Ihr drohen dort 24 (!) Jahre Haft.