Archipel veröffentlicht regelmäßig Artikel, die zu einem komplexen Thema unterschiedliche, auch polemische Meinungen wiedergeben. Diese werden nicht unbedingt von der Redaktion geteilt. Die aktuelle Situation in der Ukraine gehört zu diesen heiklen Themen. Heute veröffentlichen wir einen Text, in dem der Autor seine persönliche Sichtweise durch Zitate aus Interviews mit Jacques Sapir1 ergänzt.
Die im Titel aufgeworfene Frage ist nicht so abwegig, wie es scheint. 2014 gab es zwei wichtige Jahrestage: Den siebzigsten der Landung anglo-amerikanischer Truppen an den Stränden der Normandie, möglich geworden durch die Niederlage des deutschen Heeres an der Ostfront, und den hundertsten Jahrestag des Ersten Weltkrieges, den man als Vorspiel zum nachfolgenden Weltkrieg und als Beginn einer weltweiten geopolitischen Neustrukturierung betrachten kann. 2014 könnte auch die Wende hin zu einer neuerlichen Restrukturierung der Allianzen einleiten – und den heraufdämmernden Abschied von westlichen Überlegenheitsträumen.
Das verheerende und unverantwortliche Agieren der USA und der EU in der politischen Krise der Ukraine hat das Potential, diese unausweichliche, dem Prozess der Globalisierung innewohnende Tendenz weiter zu beschleunigen. Neue Akteure treten in den Kreis der Großmächte ein und werden einen Multilateralismus durchsetzen.
Historischer Rückblick Russland ist dabei kein wirklich neuer Akteur. Doch das Land ist dabei, sich von dem Zusammenbruch zu erholen, zu dessen Symbolfigur Präsident Jelzin geworden ist. Dieser hatte eine Ära des primitivsten Kapitalismus im Land der Sowjets eröffnet und gegen Ende seiner Karriere den bis dahin unbekannten vom Geheimdienst kommenden Wladimir Putin zum Premierminister ernannt.
Zum Präsidenten gewählt, verfolgte Putin einen Prozess der Demokratisierung der Gesellschaft weiter, der Liberalisierung der Wirtschaft und deren Integration in das globalisierte System, aber in einer deutlich durch die Staatsmacht kontrollierten Art und Weise. Dabei verlor er das Ziel nicht aus den Augen, das Ansehen der Russischen Föderation wieder herzustellen und ihre Interessen zu wahren. Damit ist er offensichtlich zu einem Kardinalproblem für die «gute politische Weltordnung» geworden, in der die Verteidigung nationaler Interessen auf immer enger werdende Spielräume reduziert wird, die durch die verschiedensten bilateralen «Freihandelsabkommen» ganz zunichte gemacht werden sollen.
Maidan Das Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und der EU wurde zum Auslöser der tiefen politischen Krise, die schon seit längerem in der Ukraine schwelte, gespalten durch ihre Geschichte, ihren Bevölkerungsgruppen, ihren verschiedenartigen sozialen Realitäten und wirtschaftlichen Gegebenheiten2. Die Spaltung in der Ukraine wurde durch politischen, ökonomischen und strategischen Druck von außen noch vertieft. Die Abscheu und allgemeine Ablehnung eines Systems, das korrumpierten Oligarchen dient, ließen die Besetzung des zentralen Platzes Maidan in Kiew zu einem Ventil des allgemeinen und tief sitzenden Unbehagens werden. Der legal gewählte ehemalige Präsident Wiktor Fedorowitsch Janukowitsch zögerte lange angesichts der Unnachgiebigkeit der EU, die von ihm forderte, zwischen einer Partnerschaft mit der EU oder der Russischen Föderation zu wählen. Schließlich verhinderte die Radikalisierung der Opposition auf dem Maidan, die militärisch von Neonazis bzw. rechtsextremen Parteien wie Pravyi Sektor und Swoboda begleitet wurde, jegliche Lösung der Krise durch Verhandlungen, indem sie einfach den Rücktritt der Regierung forderte. So wie die protestierende Bevölkerung in Syrien von der Intervention islamistischer Extremisten überrollt wurde, so werden die Besetzer_innen des Maidan, die ein breites soziales und politisches Spektrum vertraten, die Extremisten aus dem faschistischen Lager, die an Regierungsposten in Kiew gelangten, nicht mehr an den Rand drängen können. Diese Tatsache ist den in der Ukraine lebenden Russ_innen, die anfangs gar nichts gegen die Maidan-Bewegung einzuwenden hatten, nicht anzulasten – und Putin auch nicht.
Zwischen dem 18. und 22. Februar fielen mehr als 80 Menschen Gewehrkugeln zum Opfer, sowohl auf Seiten der Demon-strant_innen wie auch auf Seiten der Sicherheitskräfte. Dieses schwerwiegende Ereignis hatte die Flucht von Janukowitsch und die Einsetzung einer provisorischen Regierung der Aufständischen zur Folge. Deren erste Maßnahmen waren die Abschaffung des Russischen als zweite Amtssprache – (bei der letzten Volkszählung 2009 gaben 8 Millionen Ukrainer_innen an, Russ_innen zu sein, und 30 Millionen meldeten sich als russischsprachig an) – und die Absage an jegliche Untersuchungskommission über das Massaker vom Februar.
Die Rolle Washingtons Dies darf nicht erstaunen, wenn man Urmas Paet zuhört – damals als Außenminister Estlands gerade zurück aus Kiew –, als er der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton kurz vor deren Abflug in die ukrainische Hauptstadt erklärte: «Es wird immer deutlicher, dass hinter den Heckenschützen des Maidanplatzes nicht Janukowitsch, sondern jemand von der neuen Regierungskoalition steckt.» Die Unterhaltung wurde von russischen Diensten abgehört, über Youtube verbreitet und von Herrn Paet als authentisch bestätigt. Paet, ein Liberal-Konservativer, der ein Mitgliedsland von EU und NATO repräsentiert, berichtete in diesem Gespräch auch von Gewalttätigkeiten gegen Journalist_innen und Abgeordnete der Partei Janukowitschs, um diese zu zwingen, für seinen Rücktritt zu stimmen. Ein früher mitgeschnittenes Gespräch zwischen dem US-Botschafter und der stellvertretenden US-Außenministerin legte die Rolle Washingtons in der Protestbewegung offen wie auch die unter den Oppositionskräften bekannte Vorliebe der Amerikaner für Arseni Jazenjuk, der seit dem Staatsstreich der Aufständischen als Premierminister fungiert. Weder Verschwörungstheorien noch russische Propaganda sind in Spiel, wenn konkrete, unwiderlegbare Fakten belegen, dass seit langem ein aktives und vielfältiges Wirken der US-Diplomatie im Gange ist, um die Ukraine aus mannigfachen strategischen und ökonomischen Gründen der Einflussphäre Moskaus zu entziehen. Beleg dafür ist auch die perfekte Ausrichtung europäischer Außenpolitik nach amerikanischen Vorgaben. Diese hat jeden Gedanken der Vertretung eigener Interessen aufgegeben. Dabei wäre die Bewahrung korrekter Beziehungen mit dem großen Nachbarn auf dem gemeinsamen Kontinent sehr wichtig. Dass nicht mehr Wert darauf gelegt wird, dient in hohem Maße den transatlantischen Interessen.
Und aus russischer Sicht Mit der mühelosen Einnahme der Krim hat Putin schnell und umstandsgemäss reagiert. So vermied er ein direktes militärisches Eingreifen im Osten der Ukraine und ist nicht in die für den gewieften Taktiker zu plump gestellte Falle getappt. Der brutale Schlächter von Tschetschenien und autoritäre Staatschef im Kreml hat sich in der Ukraine nun als geschickter Polit- und Militärstratege erwiesen. Der Pentagon hat wiederum seine fatale Neigung gezeigt, seine Gegner zu unter- bzw. seine eigenen Fähigkeiten zu überschätzen – siehe auch in Afghanistan, im Irak und in Libyen.
In der ganzen Situation ist es schwierig, der stupiden und kriegslüsternen Einstimmigkeit der Medien zu widerstehen. Zum Glück gibt es dissonante Stimmen in dem Chor der geheuchelten Unwissenheit oder echten Ignoranz, der Verächtlichkeit und des Hasses – einem Chor, der die Medienlandschaft wie auch die intellektuellen und politischen Diskurse unserer pluralistischen Gesellschaften in Gänze ergriffen hat und sich gegen die Russ_innen und im Speziellen gegen deren Präsidenten richtet. Aus diesem insgesamt erbärmlichen Spektakel heben sich Meinungen von Wissenschaftlern wie diejenige von Jacques Sapir3 ab. Am 3. März stellte er fest: «Seit Samstag, dem 1. März, überstürzen sich die Ereignisse in der Ukraine. Als wichtigster Punkt wäre der Aufstand der russischen und russischsprachigen Bevölkerung und von Minderheiten im Osten des Landes zu nennen.» Gleichzeitig präsentierte er zwei Landkarten der Ukraine, eine, die die Verbreitungsgebiete von Sprachen im Land verzeichnet, 2009 an einer Kiewer Universität angefertigt, und eine andere, die die mehr als dreißig aufständischen Städte und Gemeinden gegen die neue Regierung in Kiew markiert. Diese Karten, sowohl diejenige der Verbreitungsgebiete der Sprachen als auch die des kommenden Aufstandes, ließen eine mögliche zukünftige Trennungslinie durch das Land erkennen und auch den Fakt, dass nicht ausschließlich Russischsprachige ihr Misstrauen gegenüber der Zentralmacht in Kiew demonstrierten.
Später dann ermöglichte eine Wahlfarce in einem vom Krieg zerrissenen Land den Aufstieg von Petro Poroschenko zum Präsidenten, der unmittelbar danach 50’000 bis 60’000 Soldaten losschickte, um den Aufstand seiner als «Terroristen» bezeichneten russisch-ukrainischen Mitbürger im Osten des Landes niederzuschlagen. Er zog keinerlei Dialog in Betracht, etwa über eine mögliche und wünschenswerte Föderalisierung. An verschiedenen Orten organisierten sich aufständische Gruppen, die anfangs noch spontan und schlecht oder gar nicht untereinander koordiniert waren. Sie machten sich daran, den Vormarsch der Kiewer Streitmacht zu behindern.
Der Aufstand im Osten Am 17. Juli, zu einem Zeitpunkt, da die Situation festgefahren war, explodierte ein Flugzeug der Malaysian Airlines beim Überfliegen der Ostukraine. Natürlich beschuldigten westliche Medien und Regierungsvertreter_innen sofort die «Pro-Russen». Es war und ist ihnen völlig egal, dass bis heute kein einziger Beweis diese Beschuldigung stützen kann.4 Die zersplitterten Gruppen von Aufständischen schafften es dann im Verlauf des Juli bis Anfang August, eine gemeinsame Kommandostruktur aufzubauen, um ihr strategisches Vorgehen zu vereinheitlichen. 10’000 bis 15’000 sehr motivierte Kämpfer standen gegen eine Kiewer Armee, die in ihrer gesamten Hierarchie gespalten und dermaßen schlecht geführt war, dass Sapir und andere Beobachter sich fragten: «Es scheint, dass die Truppen der Nationalgarde von der Regierung in Kiew wissentlich in ein Massaker geschickt wurden; diese hofft, sich mit Hilfe der Aufständischen der Gefährlichsten und Fanatischsten unter den Anhängern des Pravyi Sektor und von Swoboda zu entledigen. Poroschenko ist in Kiew wahrscheinlich in einer sehr prekären politischen Lage.» Selbst wenn, wie von der NATO zu erfahren, die Aufständischen auf die Unterstützung von rund tausend russischen Soldaten zählen konnten, erklärt dies nicht die radikale militärische Trendwende, die Mitte August eingeleitet wurde. Am 4. und 5. September, einige Tage vor dem NATO-Gipfel, erlitten schließlich dieTruppen Kiews eine schwere Niederlage.
Am 27. August notierte Sapir: «Die eingekreisten Truppen und die in den Kämpfen der letzten Tage aufgeriebenen Einheiten haben wahrscheinlich 12’000 bis 15’000 Männer verloren, also etwa ein Drittel der in den Operationen gegen die Aufständischen eingesetzten Soldaten. Große Mengen militärischen Gerätes wurden erbeutet. Das ist ein wichtiger Sieg für die Aufständischen mit beträchtlichen politischen Konsequenzen.» Und weiter: «Es ist zu befürchten, dass es zu einem Patt kommt, es weder Krieg noch Frieden gibt, mit ständigen Zwischenfällen an der Frontlinie (...) Das Risiko in einer solchen Situation ist hoch, dass von Kiew oder von Seiten der Aufständischen wieder zur Offensive übergegangen wird. In solchem Falle müssten Beobachtertruppen zwischen die Konfliktparteien rücken, die für beide Seiten akzeptabel sind.» Das dürften also weder NATO-Truppen, noch solche aus der EU oder Russland sein.
«Solche Beobachtertruppen müssten unter der Verantwortung der Vereinten Nationen stehen und aus den Schwellenländern (Brasilien, China, Indien) rekrutiert werden. Eine derartige Entwicklung wäre eine bedeutende politische und symbolische Niederlage für die Verantwortlichen der Europäischen Union, die dazu gezwungen wären, nichteuropäische Mächte für die Sicherung des Friedens in Europa zu akzeptieren.»
Gibt es Lösungswege? Zum Zeitpunkt des Verfassens des Artikels scheint der Waffenstillstand eher einer Feuerpause zu gleichen. Selbst jetzt, da eindeutig klar ist, dass es keine militärische Lösung geben wird, verschließt sich die Regierung in Kiew jedem politischen Ausweg mit der Ablehnung, einen Sonderstatus für «Noworossija» zu verhandeln, was nicht mehr zu umgehen ist.
Unter der Schirmherrschaft des Russisch-Französischen Dialogs kam es am 1. September in Paris zu einer Zusammenkunft, bei der Möglichkeiten für eine politische Lösung ausgelotet wurden. Lösungswege zeichneten sich ab mit einem «asymmetrischen Föderalismus», wofür Quebec in Kanada eine Beispiel wäre, oder der Einrichtung von autonomen Regionen bzw. Republiken im Rahmen eines ukrainischen Staates nach dem Vorbild von Kurdistan im heutigen Irak. Solche Lösungen müssten von der EU und Russland garantiert werden, sonst läge der Ausweg nur in einer von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannten Unabhängigkeit, wofür Abchasien und Süd-Ossetien Beispiele abgeben. Der kommende Winter – ohne die für die Stromerzeugung nötige Kohle des Donbass und mit der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die der Krieg noch verschärft hat – kann der Führung in Kiew sehr ernste Probleme bereiten, die durch das Freihandelsabkommen mit der EU nicht gelöst werden können.
Die Sanktionen gegen Russland betreffend verweise ich nochmals auf einen Artikel von J. Sapir vom 8. September, der folgendermaßen schließt: «Seit 2011 haben Vertreter Russlands wiederholt Hinweise für ihr Streben zu dem Aufbau einer Unabhängigkeit von westlichen Finanzmärkten gegeben. Dieses Vorhaben hat seit Herbst 2013 eine deutliche Beschleunigung erfahren im Rahmen einer faktischen Allianz mit China. Die Notierung des Yen an der Moskauer Börse und ebenso das Kreieren eines Marktes für den Rubel als Reserverwährung gehen in die Richtung einer Unabhängigkeit der russischen Wirtschaft von den vom Dollar beherrschten Finanzmärkten. Dies kann zu ernsten Konsequenzen für das internationale Gleichgewicht der Finanzen führen, denn Russland ist ein wichtiger Exporteur von Erdöl, Erdgas und von bestimmten Metallen. Bisher wurde dieser Handel weitgehend in Dollar abgewickelt. Wenn Russland gewillt ist, ein System aufzubauen, das seine Unabhängigkeit von den westlichen Finanzmärkten garantiert, so kann das von den Sanktionen und ihrer Logik eher noch beschleunigt werden (...) Der Aufbau eines solchen Systems hätte sehr weitreichende Konsequenzen für das internationale Finanzsystem, dessen Dauerkrise sich durch ein so erzeugtes Ungleichgewicht weiter vertiefen würde.»
Inzwischen müssen die Wirtschaft und die Bevölkerung Russlands wohl noch Opfer bringen. Der Präsident jedoch, der dank seines Vorgehens in der Ukrainekrise jetzt um die 90 Prozent Zustimmung im Lande erfährt,5 muss sich um seine Legitimität und seine politische Kontrolle über das Land kaum mehr Sorgen machen. Putin sah sich vor dieser Krise mit einem zunehmenden Aufbegehren der Mittelklasse gegen sein autoritäres Regime konfrontiert. Jetzt aber unterstützen sogar all die Russ_innen, die Zugang zu westlichen Informationsquellen haben und eigentlich zur Opposition gegen ihren Präsidenten gehören, diesen letztlich doch. Die Demokrat_innen sind heute in Russland zur Ohnmacht verurteilt und in die Ecke gedrängt. Da kann man nur sagen: Die US-Strategen haben saubere Arbeit geleistet – und liegen wieder einmal völlig daneben. Errare humanum est, perseverare diabolicum.
- Le Monde, 12. September 2014