Im Jahr 1991 hat die Post der gerade unabhängig gewordenen Ukraine zwei erste Briefmarken herausgegeben. Eine wurde dem 500-jährigen Jubiläum des Aufstands der Kosaken gewidmet, in dem Historiker den Ursprung des nationalen Gedankens der Ukraine sehen. Auch die zweite Marke war einem geschichtlichen Datum gewidmet: «100 Jahre der ersten Auswanderungswelle nach Kanada» .Am Ende des 19. Jahrhunderts begann die massenhafte Emigration der Bewohner der westlichen Ukraine, damals Bestandteil der österreichisch-ungarischen Monarchie. In den Dörfern der armen Region, vor allem der Karpaten, reichte der Boden nicht mehr aus, um die ganze Bevölkerung zu ernähren. Kanada war eines der ersten Länder, in dem sie sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben ansiedelten. Erst mit dem Zuzug der ukrainischen Bauern wurde Kanada übrigens einer der größten Weizenexporteure der Welt.
Außer Kanada waren die USA, Australien und Brasilien die bevorzugten Länder der ukrainischen Emigranten. Eine zweite Emigrationswelle während und nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass heute 8 Millionen Ukrainer in 55 Staaten der Welt gezählt werden. Dazu kommen noch 7 Millionen, die in anderen GUS-Staaten leben. Kein Staat wünscht, dass seine Bevölkerung massenweise emigriert, und so hofften die Machthaber der seit 1991 unabhängigen Ukraine im Gegenteil auf eine Rückkehr der Emigranten, die im Ausland wertvolle Erfahrungen gesammelt haben – und vielleicht auch zu Wohlstand gekommen sind. Schon bald hat sich herausgestellt, dass diese Hoffnungen nicht erfüllt werden. Nur aus gewissen krisen- und kriegsgebeutelten Regionen der ehemaligen UdSSR kamen ukrainischstämmige Bürger zurück. Im Gegenteil haben, ähnlich wie vor 100 Jahren, mehrere Millionen UkrainerInnen in den letzten zehn Jahren ihre Heimat verlassen, nach inoffiziellen Schätzungen sollen es etwa 7 Millionen sein. 2002 lebten laut Statistik 48 Millionen Menschen in der Ukraine.
Ein Teil der Emigranten hat inzwischen sogar schon die Staatsbürgerschaft in der neuen Heimat bekommen, so sind praktisch die gesamte jüdische und die deutsche Gemeinde nach Deutschland, nach Israel und in die USA ausgewandert. Ein bedeutend größerer Teil lebt ohne legalen Status im Ausland. Zwischen 2 und 3 Millionen Ukrainer arbeiten in Russland, über eine Million in den USA, eine knappe Million in Kanada. In Nordamerika sind die neuen Emigranten damit praktisch gleich zahlreich wie die alte Diaspora. In Deutschland und Portugal sind es je 500‘000, in Griechenland, Italien und Tschechien je 300‘000. Sogar im armen Weißrussland arbeiten ca. 350‘000 Ukrainer. Natürlich sind all dies Schätzungen, da die meisten schwarz arbeiten, jedenfalls in der Ukraine keine Steuern bezahlen und auch kein Interesse haben, von irgendeiner Statistik erfasst zu werden.
Vielseitige Arbeit
Die Beschäftigung der Ukrainer im Ausland ist sehr vielseitig. In erster Linie Männer mittleren Alters arbeiten überall dort, wo billige Arbeitskräfte gebraucht werden, am Bau, in Fabriken, im Gastgewerbe, in der Landwirtschaft. Der Zusammenbruch der sowjetischen Planwirtschaft bedeutete auch das Ende der Betriebe, in denen sie früher beschäftigt waren.
Natürlich gehen auch Menschen mit höherer Bildung ins Ausland. Ärzte, Lehrer, Wissenschafter können von ihren derzeitigen Gehältern, 50 – 80 Euro monatlich, in der Ukraine kaum eine Familie ernähren, geschweige denn an ein eigenes Haus oder ein Auto denken.
Mit etwas Glück finden sie im Ausland einen Job im selben Fachbereich. Ein Wissenschafter arbeitet als Laborant, ein Arzt als Krankenpfleger... Nur in Weißrussland und in Russland kommt es vor, dass die ukrainischen Arbeitskräfte eine ihrer Qualifikation entsprechende Arbeit finden.
Zu zweifelhaftem Ruhm haben es die laut Schätzungen etwa 500‘000 Frauen gebracht, die sich in Westeuropa, den Balkanländern und der Türkei freiwillig oder unter Zwang prostituieren. Mehrere Organisationen versuchen seit einiger Zeit die jungen Frauen vor fiktiven Stellenangeboten in Cafés und Bars zu warnen. Trotzdem gelangen nach wie vor viele naive und oft sehr junge Frauen in die Hände von modernen Sklavenhändlern.
Sogar in Afrika finden UkrainerInnen besser bezahlte Arbeit als zu Hause. Zunächst verdingten sich arbeitslose Geologen in verschiedenen Krisenregionen beim Abbau von Gold und Diamanten. Zahlreiche Ärzte fanden in Libyen Arbeit, wo Muammar Gaddafi viel Geld ins Gesundheitswesen steckt, es aber nicht genügend Fachkräfte gibt. Aber auch unqualifizierte Arbeiter finden auf den neuen landwirtschaftlichen Grossbetrieben Jobs.
Auswirkungen und Ursachen
Die ukrainischen Emigranten haben im Grunde mit denselben Problemen zu kämpfen wie ihre nordafrikanischen Schicksalsgenossen: Geringe Bezahlung für schwerste Arbeit, keinerlei verbriefte Rechte, Angst vor der Polizei und Beamten, fremdenfeindliche Übergriffe usw.
Wirtschaftsfachleute schätzen, dass aus der Arbeitsemigration jährlich mehrere Milliarden Dollar in die Ukraine fließen, mehr als aus dem Ausland in die ukrainische Wirtschaft investiert wird. Allerdings lassen sich diese Zahlen kaum vergleichen. Nach makroökonomischen Kriterien sind die Milliarden der Emigration kaum bemerkenswert. Nur ein kleiner Anteil davon fließt in funktionierende Betriebe und trägt so zur Entwicklung des Landes bei. Von diesem Geld leben die Familien, sie kleiden sich besser, leisten sich für einheimische Löhne zu teure Waren und bezahlen die Studienkosten der jungen Generation.
Soziologische Untersuchungen ergaben, dass die Mehrheit der Gastarbeiter in der Heimat Arbeit annehmen würde, wären die Löhne drei bis vier Mal höher. Seit Jahren stagnieren die Löhne auf niedrigem Niveau: Offiziell beträgt das mittlere Einkommen etwa 90 Euro im Monat, nach inoffiziellen Schätzungen liegt es eher zwischen 60 und 70 Euro. Sogar erfolgreiche Betriebe zahlen kaum mehr. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Gewerkschaftsbewegung praktisch nicht existiert. In neuen Betrieben gibt es überhaupt keine gewerkschaftliche Vertretung; in den Betrieben, die schon zu Zeiten der Sowjetunion existierten, hat sie nur Symbolcharakter. Die Fachgewerkschaften, z.B. der Ärzte, Eisenbahner, Minenarbeiter usw. sind Instrumente der Macht. Aus dieser Situation gibt es zwei Auswege: Entweder sich mit seinem Schicksal abzufinden, oder auch ins Ausland arbeiten zu gehen. Ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung hat alle Illusionen verloren und erwartet keine Verbesserung der Lage. Laut einer kürzlich veröffentlichten gemeinsamen Untersuchung des Kiewer Instituts für Soziologie und einer NGO, hegt jeder dritte Bewohner der Ukraine den Wunsch, zu emigrieren. Bei der Generation der unter 30-jährigen betrage dieser Anteil gar 66 Prozent.
Es ist eine paradoxe und traurige Tatsache, dass sich die meisten Emigranten und Saisonarbeiter für das Wohl ihrer Kinder opfern, um ihnen die Existenz zu sichern und eine Chance auf eine gute Ausbildung oder zumindest ein Diplom zu geben – und dafür die Familie verlassen. In sehr vielen Familien erziehen die Grosseltern die Kinder, die ihren Vater oder die Mutter nur ein oder zweimal im Jahr sehen. Es ist eine Ironie des Schicksals wenn die Mutter in Deutschland, Italien oder den USA als Kindermädchen arbeitet und dafür die eigenen Kinder vernachlässigt. In den Dörfern und Kleinstädten der Westukraine haben Familien Seltenheitswert, in denen nicht zumindest ein Elternteil im Ausland ist. Natürlich gehen viele Ehen dadurch in Brüche. In der Ostukraine ist es ähnlich, bloß dass die Arbeitssuchenden sich eher auf den Weg nach Russland machen. Die Visa für die Arbeit im westlichen Ausland werden meist von dubiosen Organisationen beschafft, die häufig auch gleich die Arbeitsstelle vermitteln. Dafür verlangen sie ansehnliche Summen, zwischen 400 und 1‘000 Euro. Nach wie vor gibt es Banden, welche die eigenen Landsleute ausrauben, wenn diese mit ihrem Lohn auf dem Weg nach Hause sind. Dabei profitieren sie von der prekären Situation der Arbeitsemigranten, die sicher nicht Anzeige erstatten werden.
Die politische Desillusionierung und Lethargie der Ukrainer ist im 13. Jahr ihrer Unabhängigkeit eher noch stärker als in den Jahren zuvor. Nur wenige träumen von einem «normalen» Leben im eigenen Land. Hingegen lebt der Mythos vom raschen Aufstieg im Ausland. Erfolgreiche Einzelschicksale werden viel häufiger kolportiert als die zahlreichen Fälle, in denen ukrainische Arbeitskräfte im Ausland aufgrund ihrer prekären Situation ums Leben kommen: Arbeitsunfälle, Mord durch Banditen, kein Zugang zu medizinischer Versorgung etc. Aus diesen Gründen, und natürlich wegen dem enormen Lohngefälle zu Westeuropa, ist mit einer Verringerung der Ost-West-Arbeitsmigration vorläufig nicht zu rechnen.
Oleg Suprunenko
Journalist, Ukraine