Am 29. Dezember 2004 sprach Jean-Marie Chauvier, belgischer Journalist und Osteuropaspezialist, auf dem Regionalsender Radio Zinzine (Südfrankreich) über die ukrainischen Wahlen. Der folgende Artikel ist eine Transkription seiner Kommentare, welche diese Wahlen in einen historischen und geopolitischen Kontext stellen. In diesem 2.Teil geht es um das Phänomen des Rechtsextremismus in der Ukraine.
Es ist eine lange Geschichte, die sich besonders auf die Region Galizien konzentriert, die vor dem deutsch-sowjetischen Abkommen sowie ihrer Sowjetisierung polnisch war und bis 1939 zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Galizien fungierte als Schmelztiegel von Traditionen sowie von Sprachen und wurde somit zur Bastion eines radikalen Nationalismus, der erst gegen eine polnische, dann eine russisch-sowjetische Dominanz rebellierte und sich dazu der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) bediente. Die OUN wurde 1929 gegründet und ihre Ideologie sowie Zielsetzungen sind nicht nur faschistisch, sondern nazistisch zu nennen. Während der Besatzungszeit durch die Nazis gab es in den Reihen der OUN etliche Kontroversen. Ihr Ziel war die Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates unter deutschem Protektorat. Es gab die Versprechungen eines deutschen Naziführers namens Ozenberg, der das Prinzip «Teile und herrsche» anwandte, das heißt verschiedene nationalistische Strömungen unterstützte und ihnen die Unabhängigkeit versprach, um somit die Sowjetunion zusammenbrechen zu lassen.
Mit Beginn des Krieges stellte sich dann sehr schnell heraus, dass Hitler und Himmler ganz andere Ziele verfolgten: Die Unterwerfung und in etlichen Fällen die Ausrottung von Teilen der Bevölkerung, die Widerstand leistete. In diesem Moment kam es in der OUN zur Spaltung zwischen denen, die sich aktiv an der Naziokkupation beteiligten und in der SS-Division Galizien mitmachten, und denjenigen, die sich in der ukrainischen aufständischen Armee UPA engagierten. Letztere berief sich auf Stepan Bandera, radikaler Chef der OUN, der von den Deutschen aufgrund seiner Unabhängigkeitsbestrebungen in Sachsenhausen eingesperrt wurde. Dies ist eine ganz spezielle historische Etappe der Westukraine und insbesondere von Galizien. Man muss also endlich damit aufhören, von einem ukrainischen Nationalismus zu sprechen: Vielmehr handelt es sich um einen westukrainischen, einen galizischen Nationalismus.
Eine Vielzahl von Organisationen
Zur Ukrainischen Nationalen Versammlung (UNA), eine Art Dachverband, gehören hauptsächlich viele radikale, nationalistische Organisationen. UNSO ist der militärische Flügel dieser Partei und kämpfte an vielen Fronten, so in Tschetschenien, Georgien, Kroatien… In der UNA vertreten, ist auch die Nationalsozialistische Partei, die kürzlich ihren Namen änderte. Ab sofort heißt sie «Partei der Freiheit» und ihr Symbol ist ein stilisiertes Hakenkreuz. Etliche dieser rechtsextremen faschistischen und neonazistischen Gruppierungen unterstützt die «Orange Revolution» und Jusch-tschenko. Einer ihrer Anführer gehörte zur parlamentarischen Gruppe Juschtschenkos und wurde aus dieser im Juli ausgeschlossen, nachdem er einen Aufruf «zur Säuberung der Ukraine von den Moskalis und Kikes» (Schimpfwörter für Moskauer und Juden) lanciert hatte. Man kann sich sehr gut vorstellen, unter welch enormem Druck daraufhin Juschtschenko stand, denn natürlich kann man sich mit solchen Dingen im Westen nicht sehen lassen und auch Georges Soros hört derartige Äußerungen gar nicht gern.
Diese Gruppierungen sind in den parlamentarischen Fraktionen vertreten, im Block von Julia Timotschenko, die man auch «die Pasionaria der orangefarbenen Revolution» nennt und die den Block des Vaterlandes, einen eher nationalistischen Block, anführt. Sie sind dort vertreten, aber nicht besonders einflussreich. Großen Einfluss dagegen hat die radikale nationalistische Ideologie. Um die ideologische und politische Entwicklung der letzten Jahre in der Ukraine begreifen zu können, darf man ein wichtiges Element nicht unterschätzen: die Mitglieder der OUN, welche in Galizien stark verankert war, sind 1944 mit dem Rückzug der deutschen Armee massiv nach Kanada, Großbritannien und in die USA emigriert. Die Mehrheit der SS-Division Galizien zum Beispiel, etwa 10.000 Kämpfer, wurde im Block nach Großbritannien überführt.
Die ukrainische Diaspora in den USA und Kanada setzt sich im Wesentlichen aus ehemaligen Mitgliedern dieser Organisation von ukrainischen faschistisch orientierten Nationalisten zusammen. Das ist eine Tatsache und die Organisation zählte mehrere Millionen Mitglieder. Als die Sowjetunion sich auflöste, kamen etliche dieser Leute - oder ihre Erben – zurück, und dies mit starken finanziellen Mitteln, Stiftungen, Publikationen usw.
Es kam zu einer Art Aufgabenteilung mit der alten Nomenklatur an der Macht, die sehr konservativ und letztendlich ohne Ideologie war. Dieses Vakuum füllten die Nationalisten mit ihren Ideen, Verlagen, Geschichtsbüchern und Zeitungen. Somit konnten sie, die Erben eines radikalen Nationalismus durchdrungen von westlicher Demokratie, die Medien, die Ideologie und eine Neuschreibung der Geschichte in hohem Maße beeinflussen. Letztere gestaltet sich natürlich nach nationalistischen Richtlinien. Das entspricht den momentanen Bedürfnissen und passierte in allen neuen unabhängigen Staaten: die Neuschaffung einer nationalen Identität mit einer sauberen Geschichte, einer nationalen Mythologie usw.
Im Baltikum, in Kasachstan, in Tatarstan sucht jeder in der Geschichte, in der Religion nach Elementen, mit denen er sich identifizieren kann. Und genau dasselbe passiert zurzeit in der Ukraine.
Politisch gesehen glaube ich nicht, das diese extreme Rechte eine Zukunft hat, es sei denn, die Situation verschlechtert sich, wie das in Serbien und Kroatien der Fall war. Im Allgemeinen ist die Einstellung der westukrainischen jungen Leute prowestlich, angezogen von der Demokratie, den Freiheiten, dem Konsum und entspricht überhaupt nicht den Vorstellungen der nationalistischen alten Garde. Ich möchte noch hinzufügen, dass diese Sehnsucht nach dem Westen auch bei der ostukrainischen Jugend existiert, die vorwiegend russischsprachig und traditionell russlandfreundlich eingestellt ist. Diese prowestliche Grundhaltung gibt es ebenfalls in der russischen Jugend und deshalb ist die Spaltung in pro-russisch und anti-russisch völlig absurd.
Die Ermordung des Journalisten Gongadse
Dieser Mord spielt in der jüngeren Geschichte eine ganz wichtige Rolle. Er löste in der aufkeimenden Protestbewegung gegen den damals amtierenden Präsidenten, Leonid Kutschma, einen enormen emotionalen Schock aus. Daraufhin entflammte ein wahres Protestfeuer, das alle Schichten der ukrainischen Opposition erfasste, sowohl im Osten als auch im Westen. An diesen Demonstrationen beteiligten sich nicht nur die liberalen Nationalisten der Westukraine, sondern auch die Kommunisten aus dem östlichen Teil. Von diesen Kommunisten spricht niemand, dabei handelt es sich um die größte Fraktion im Parlament, eine politische Partei mit dem stärksten Einfluss im Osten, während sie im Westen quasi gar kein Gewicht hat. Die Kommunistische Partei unter Simonenko ist heute politisch völlig marginalisiert, weil es ihr nicht gelang, in dem Konflikt Stellung zu beziehen: Sie ist einerseits gegen die Kutschmaregierung, die den Kommunisten im Osten harte Schläge zugefügt hat, aber natürlich nicht für einen NATO-Beitritt, wie ihn Juschtschenko ankündigte. Die Kommunisten sitzen also zwischen zwei Stühlen und schaffen es nicht, klare Position zu beziehen. Ganz im Gegensatz zur anderen linken Partei, der SP von Walentin Moros, die aus den ukrainischen Kommunisten hervorgegangen ist und sich Jusch-tschenko angeschlossen hat.
Das Bündnis von Juschtschenko «Unsere Ukraine» setzt sich aus einem demokratischen westlichen, einem nationalistischen und einem sozialistischen Flügel zusammen.
Uns fehlen viele Informationen über die soziale Situation und die Geistesverfassung in den verschiedenen Regionen, nicht nur in Transkarpatien, Galizien oder Kiew, sondern auch im Osten oder im Süden wie zum Beispiel in Saporoschje, dem Ort, wo sich früher die anarchistische Bewegung um Nestor Machno formierte. Man muss auch schauen, was genau in der Region um Odessa passiert, denn das ist wieder eine ganz andere Gegend und Mentalität: die Schwarzmeerküste, die südliche Ukraine und nicht zu vergessen die Krim mit ihrer Besonderheit, als einzige Region bis zum heutigen Tag über einen Autonomiestatus zu verfügen und einer ganz speziellen Geschichte. Früher ein Krim-Khanat, später osmanisch, dann zu Russland gehörend wurden die Krimtataren 1944 unter Stalin in einer Strafaktion, wie es damals hieß, zwangsumgesiedelt, zur gleichen Zeit wie andere Völker auch. Per Dekret übergab 1954 Nikita Chruschtschow, gebürtiger Ukrainer, die Krim der Ukraine. Die Ukrainer halten an der Krim fest, als es allerdings zum Zusammenbruch der Sowjetunion kam, meinten die Russischsprachigen, ja die Russen selbst:«Wenn es keine Sowjetunion mehr gibt, kehren wir nach Russland zurück, wir bleiben nicht in der Ukraine». Den Anfang einer ernsten Krise zwischen Russland und der Ukraine gab es bereits aufgrund des gewährten Autonomiestatus. Dies führt uns zu einem der zukünftigen Probleme in der Ukraine: dem Einheitsstaat, gewissermaßen zentralisiert - ich sage gewissermaßen, denn es ist ein sehr schwacher Staat – obwohl alle Bedingungen für einen föderalistischen Staat gegeben wären. Die Hardliner unter den Nationalisten sind natürlich gegen jede Art von Föderalismus, aber ich bin überzeugt, wenn es nicht in Richtung Föderation geht, besteht die Gefahr eines Auseinanderbrechens.
Jean-Marie Chauvier
Journalist, Brüssel