SCHWEIZ / MIGRATION: Die ganze Welt in einer Stadt

de Katharina Morawek Kuratorin der Shedhalle in Zürich, 21 juin 2017, publié à Archipel 260

25 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz haben keine Bürgerrechte; das Demokratiedefizit verlangt nach neuen politischen Formen. Folgende Prinzipien könnten dafür wegweisend sein: Die Feststellung, dass die Demokratie demokratisiert werden muss, das «Recht auf Rechte» erstritten werden und das (migrantische) Recht auf Stadt konkret erprobt werden muss.

Das Konzept der «Urban Citizenship» lebt von diesen Prinzipien. Es knüpft das Recht auf Rechte und den Zugang zu Ressourcen an den Lebensmittelpunkt der Stadtbewohner_innen, nicht an deren Staatsbürgerschaft. Das Projekt «Die ganze Welt in Zürich – konkrete Interventionen in die Schweizer Migrationspolitik» an der Shedhalle Zürich zielte darauf ab, mit den Mitteln der Kunst konkrete Vorschläge einer Stadt-bürger_innenschaft (Urban Citzenship) für Zürich auszuloten. Zürich soll zum «sicheren Hafen» werden: für alle, die in dieser Stadt leben, und für alle, die noch dorthin kommen.
Das Recht auf Rechte
Spätherbst 2014, am Ufer des Zürichsees. Für das kommende Jahr sind Wahlen angekündigt. Wahlen, die ein weiteres Mal entlang des Themas Migration entschieden und unter Ausschluss jener 25 Prozent der Bevölkerung, die in der Schweiz keine Bürger_innenrechte und somit auch kein Wahlrecht geniessen, stattfinden würden. Kann die Schweiz unter diesen Umständen eine Demokratie genannt werden? Vielen Menschen ohne Schweizer Pass wird auch der Zugang zu sozialen Dienstleistungen, Bildung, Arbeitsplätzen, öffentlichen Institutionen und anderen Räumen erschwert. Über Migration wird nach wie vor als Problem gesprochen und über zahlreiche Migrant_in-nen als angebliche Konfliktquellen Bescheid gewusst, während sie aus Entscheidungspositionen immer noch strukturell ausgeschlossen bleiben. Viele Initiativen haben in den letzten Jahren versucht, mehr Bürgerrechte zu erstreiten, sind damit aber an den Urnen verschiedener Schweizer Städte und Kantone gescheitert.
Die Erfolglosigkeit der bisherigen Forderungen nach einer Ausweitung der Bürger_innenrechte ruft nach neuen politischen Formen, um die rechtliche und soziale Ungleichheit, welche die Schweizer Bevölkerung durchzieht, zu überwinden. Die folgenden Prinzipien könnten dafür wegweisend sein: die stetige Demokratisierung der Gesellschaft und ihrer Institutionen und ein alle Zonen der politischen, sozialen und kulturellen Öffentlichkeit in den Blick nehmendes Engagement für ein «Recht auf Rechte».
Das Recht auf die Stadt
Praktisch würde dies zuallererst bedeuten, dass alle, die in einer Stadt leben, auch Zugang zu den sozialen Dienstleistungen und Ressourcen erhalten müssten. Das Konzept der Urban Citizenship lebt von diesen Prinzipien. Es knüpft das Recht auf (soziale) Rechte und den Zugang zu Ressourcen an den Lebensmittelpunkt der Stadtbewohner_innen, nicht an deren Staatszugehörigkeit. Mit Urban Citizenship ist also eine «Stadtbür-ger_innen-schaft» oder auch «Wohn-bürger_innenschaft» gemeint. Während der Begriff «Staats-bürger_innenschaft» fundamentale Rechte an die Grenzen eines Nationalstaats, an Mobilitätskontrolle und Sesshaftigkeit bindet, meint Stadtbürger_innen-schaft die Anpassung politischer Instrumentarien an die vielfältige Normalität moderner (Gross-)Städte.
Wichtig ist dabei einerseits das Zusammenspiel von Regierungspraxen und sozialen Kämpfen: Urban Citizenship meint Veränderungen in der lokalen Governance, denkt dabei aber soziale Kämpfe von unten stets mit. Diese sozialen Kämpfe erneuern die Forderungen nach einer Ausweitung von Teilhabe und sozialen Rechten stetig und – so liesse sich ergänzen – laufen über das Partikuläre bestimmter politischer Interessengruppen hinaus zu einer Demokratisierungsbewegung zusammen. Andererseits – und das ist der entscheidende Punkt – kommt diese Ausweitung von Teilhabe genau durch jene zustande, die zuvor noch nicht als «Citizens» galten. Es kann also nicht das Ziel der Bewegungen für Stadtbürger_innenschaften sein, dass ihre Kämpfe nach jenem paternalistischen Muster verlaufen, wie man es in der Schweiz etwa aus der Geschichte des Frauenstimmrechts kennt: Auch wenn diesem ein jahrzehntelanger emanzipativer Kampf der Frauen für ihre eigenen Rechte vorausging, waren die Frauen im Jahr 1971 schliesslich darauf angewiesen, dass eine Mehrheit der Männer ihnen dieses Recht an der Urne gewährte. Der epochale Sprung aus der althergebrachten Dominanz der Männer war hier also nur über die Akzeptanz der diskriminierten Frauen durch diese dominanten Männer möglich. Wenn die Stadtbürger_innenschaftsbe-wegungen diesen Umweg über die Dominanzgesellschaft nicht gehen wollen, müssen sie also auch den Demokratiebegriff repräsentativer – oder, wie im Falle der Schweiz, «teildirekter» – Demokratie radikal überprüfen.
Konkrete Projekte zu drei Aspekten
Das Projekt «Die ganze Welt in Zürich – konkrete Interventionen in die Schweizer Migrationspolitik», das seit Juli 2015 an der Shedhalle Zürich läuft, zielt darauf ab, mit den Mitteln der Kunst konkrete Vorschläge einer Stadtbürger_in-nenschaft (Urban Citzenship) für Zürich auszuloten und diese Vorschläge hinsichtlich ihrer politischen Umsetzbarkeit in Zürich zu überprüfen. Es schuf einen transformativen Ort, an dem über Sachzwänge hinaus, im Sinne einer sozialen Utopie gemeinsam nachgedacht, verhandelt und politisch agiert werden konnte und «Citizenship» (verstanden als politisches Handeln) entstehen konnte. Zürich soll zum «sicheren Hafen» werden: für alle, die in dieser Stadt leben und für alle, die noch dorthin kommen. Das Projekt wurde von Katharina Morawek (künstlerische Leitung, Shedhalle Zürich) in Zusammenarbeit mit dem Künstler Martin Krenn konzipiert und mit einer transdisziplinär besetzten Arbeitsgruppe* umgesetzt. In Gesprächen mit Experten und Expertinnen sowie politischen Entscheidungstragenden wurden konkrete Projekte zu drei Aspekten von städtischer Citizenship erarbeitet: Aufenthaltsfreiheit, Diskriminierungsfreiheit und Gestaltungsfreiheit. Urban Citizenship wurde so zu einer konkreten Intervention in der Stadt Zürich und zu einer politischen Inspiration in Bern, Basel und St. Gallen. Die Zürcher Erfahrung zeigt, dass das Konzept nur funktioniert, wenn es in die lokalen Kämpfe eingebettet ist. Urban Citizenship kann dann sowohl Visionen als auch Instrumente bieten für eine politisch-experimentelle Bewegung zwischen Aktivisimus, Politik, Kunst und Wissenschaft.
City-Card
Um die Mitte der Laufzeit des Projekts (zum Jahreswechsel 2015/2016) zeigte sich, dass das Thema in Zürich und der Schweiz angekommen war. Zahlreiche Anfragen für Vorträge (in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen in St. Gallen, Bern, Basel etc.) zeugten vom grossen Interesse am Thema Urban Citizenship, insbesondere aber die Attraktivität der konkreten Idee der «City Card». Damit ist eine «Berechtigungskarte» für alle Bewohner_innen einer Stadt gemeint, die diesen unabhängig vom Aufenthaltsstatus Zugang zu sozialen Dienstleistungen bietet (z.B. Gesundheitswesen, städtische Schwimmbäder und Bibliotheken, die City Card gilt zudem als gültiges Dokument gegenüber der Polizei, der Meldebehörde etc.). Umgesetzt wurden derartige City-Card-Projekte beispielsweise in New York City (seit Beginn 2015). Die Stadt Zürich richtete mit Beginn des Jahres 2017 eine interdepartementale Arbeitsgruppe ein, die sich mit der Umsetzung einer City Card für Zürich auseinandersetzt. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob bereits konkrete Schritte in der Zürcher Verwaltung gesetzt werden können. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe werden voraussichtlich im Herbst 2017 veröffentlicht. In Bern und anderen Schweizer Städten gibt es ähnliche Überlegungen. Die «Übersetzbarkeit» einer solchen Idee wie der «City Card» stösst allerdings an Grenzen, sobald sie von der jeweiligen konkreten Situation vor Ort abstrahiert wird. Zentral sind – wie weiter oben betont – die Analyse der jeweiligen (politischen) Kräfteverhältnisse und die Zusammensetzung der jeweils stattfindenden sozialen Kämpfe. Ein weiteres Gedeihen der Idee in den erwähnten Schweizer Städten ist aus heutiger Einschätzung durchaus realistisch.
Soziale Bewegungen
Auch die Verbindung zu sozialen Bewegungen ist für den breiten Erfolg zentral. Am 7. Februar 2016 diskutierten im Rahmen des Stadtforums «Wir alle sind Zürich» über 550 Interessierte in der Shedhalle über ein (post-)migrantisches Recht auf die Stadt und neue Möglichkeiten in der Schweizer Migrationspolitik. Der inhaltliche Fokus wurde ebenfalls auf das Thema Urban Citizenship gelegt. Die Politologin Shpresa Jashari formulierte in ihrer Eröffnungsrede den Spirit einer neu entstehenden postmigrantischen Politik, die sich vom «ängstlichen Reagieren» hin zum «selbstbewussten Agieren» bewegt: «Ich zittere nicht mehr davor, wie der stimmberechtigte Teil der Schweiz diesmal über uns, die wir nicht mitbestimmen dürfen, richten wird. Werden sie unseren Wert diesmal anerkennen? Vielleicht, wenn nicht unseretwegen, so doch um ‚ihres‘ Rechtsstaats Willen? Nein, diesmal, statt mich diesen alten Hoffnungen auf Anerkennung durch die angebliche ‚Mehrheitsgesellschaft‘ auszuliefern und atemlos auf die nächste Regung des nervösen ‚Volkskörpers‘ zu warten, habe ich Lust, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Und anfangen will ich hier, wo ich lebe, in meiner Stadt Zürich.» Daneben fanden zahlreiche Workshops und Austauschformate zu vorhandenen Kämpfen von Migrant_innen-Organisationen und postmigrantischen Kontexten statt.
Fazit
Eine an gesellschaftlicher Transformation orientierte Interpretation von Urban Citizenship braucht einerseits Strategien zur Stärkung der zivilen Rechte von Bürger_innen und Noch-nicht-Bürger_innen. Es geht in erster Linie darum, Politik selbst in die Hand zu nehmen, so wie soziale Bewegungen das immer schon tun. Doch um das Versprechen von Urban Citizenship, das auch ein kosmopolitisches ist, tatsächlich einzulösen, braucht es auch soziale Bewegungen und progressive Politiken auf nationaler und transnationaler Ebene, die es verstehen, politische Effekte zu produzieren, die dort wirken, wo Datenabgleich, Einreise- und Visapolitiken, Zusammenarbeit von Behörden bzw. Polizei, Asyl- und Abschiebestandards usw. verhandelt und entwickelt werden. So könnten strukturelle Veränderungen bewirkt und ein substanzieller, europaweiter Weg in Richtung einer Demokratisierung der Demokratie und einer Ausweitung des Rechts auf Rechte, basierend auf dem Wohnort, beschritten werden.

* Mitwirkende: Kijan Esphangizi, Rohit Jain, Bea Schwager und andere.