Interview von Jean-Marie Chauvier mit Carine Clément (siehe Kasten), 18. März 2004
In allen Kommentaren über die jüngsten Ereignisse in Russland spricht man von einem «Rückschritt der Demokratie», von der OSZE über das Europäische Parlament bis zum US-State Department. Die Kritiken von Colin Powell und der OSZE richten sich gegen das Fehlen von politischen Debatten und Pluralismus während der Kampagne für die Präsidentschaftswahlen vom 14. März 2004. Wladimir Putin wird beschuldigt, ein autoritäres Regime aufzubauen mit Hilfe der «Silowiki», den nationalistischen und populistischen Kräften, welche die Mehrheit in der Duma innehaben. Zum Beweis werden mangelnde Medienfreiheit, die Jagd auf liberale Oligarchen und die Inhaftierung von Mikhail Chodorowski zitiert, außerdem der Druck auf Georgien und andere ehemalige Sowjetrepubliken, die Wiederaufnahme von Waffenproduktion und –verkauf, der verstärkte Anti-Okkzidentalismus usw. Wie siehst du diesen «Rückschritt der Demokratie»?
Der Rückschritt ist nicht zu leugnen, sogar im Vergleich mit der autoritären Jelzin-Epoche der Jahre 1992/93. Diese war von einem erbitterten Kampf gezeichnet gegen das Parlament, die kommunistische Partei und alle Kräfte, die man verdächtigte, gegen die «liberalen und demokratischen Reformen» zu sein. Es endete mit der Bombardierung des Parlaments, von der heute niemand mehr redet.
Nach dieser Kraftdemonstration (die damals vom Westen, den Liberalen und den meisten Moskauer Intellektuellen begrüßt wurde), lockerte das Jelzin-Regime die Zügel und machte sich zügig an die oligarchische Privatisierung der Wirtschaft. Im sozialen, politischen und medialen Bereich herrschte das «Bardak» (Bordell auf Russisch) und ließ den Kämpfen der Gewerkschaften und der Entstehung der Zivilgesellschaft freien Lauf. Im wirtschaftlichen Bereich ging es wild her. Auch wenn «Bardak» nicht gleichzusetzen ist mit Demokratie, so kann man doch sagen, dass es einen gewissen Grad an Freiheit gewährte. Diese Freiheit betraf jedoch vor allem die führenden Klassen oder Clans der Jelzin-Epoche: Intellektuelle (vor allem liberale), Journalisten, neue Unternehmer, Oligarchen…
Im Mediensektor wurden die Kompetenzen der Redaktionen allmählich durch die neuen Besitzer übernommen, Finanzgruppen mit radikal-liberaler Ideologie, antikommunistisch, antisozial. Doch die neu erschlossenen Finanzquellen ermöglichten das Aufkommen einer «modernen» Presse: professionell und qualitativ hochstehend für die Eliten, aber auch tabloid und sensationslüstern für das «gemeine Volk». Die Verlierer bei diesen Reformen - Arbeiter, Lehrkräfte, Ärzte, Rentner - durften zwar ihre Meinung äußern, aber sie drang nur selten in die Öffentlichkeit vor, die von anderen Fragen und anderen sozialen Kategorien mit Beschlag belegt war.
Aus dieser Zeit stammt die Geringschätzung der «Dermokratie» («dermo» heißt Scheiße auf Russisch), die in Verbindung gebracht wurde mit dem Verfall des Lebensniveaus, dem Verlust der sozialen Sicherheiten, der Verhöhnung der Bevölkerung durch die Liberalen und den wilden Privatisierungen, von denen die der Macht Nahestehenden profitierten. «Wir sind frei, aber das schafft uns kein Essen her» , sagten mir die Arbeiter, die ich im Rahmen meiner Studien befragte.
Unter Putin hat sich der politische Diskurs geändert: Das Lob der uneingeschränkten Freiheit wurde ersetzt durch Deklarationen über die «Wiederherstellung der Ordnung», die «Diktatur des Gesetzes», durch die Definierung der sozialen Prioritäten (Kampf gegen die Armut, Gehaltserhöhungen). Das klingt wie liebliche Musik in den Ohren vieler Russen, die sich von 10 Jahren höhnischem und verheerendem Liberalismus gedemütigt fühlen. Denn was sind die «Verstöße gegen die Freiheit» für die Mehrheit der Bevölkerung? Journalisten, die sich selbst zensurieren, Intellektuelle, die zum Schweigen gebracht werden, Verteidiger der Menschenrechte, die unterdrückt werden und ihre Sponsoren verloren haben, verhasste Oligarchen, die im Gefängnis sitzen. Nichts, was den Alltag der Leute betrifft, oder nur sehr wenig. Die «Leute» bekommen endlich rechtzeitig ihre Löhne, müssen nicht mehr jeden Tag überlegen, wie es weitergehen soll, und hören die paternalistischen und beruhigenden Reden der Regierung. Natürlich ist Krieg in Tschetschenien, wie ein beschämender Alptraum. Keiner sieht einen Ausweg, lieber nicht daran denken…
Ich will hier das Putin-Regime nicht verteidigen. Es wird jedoch erlebt wie eine «Rache der kleinen Leute» gegenüber den arroganten Oligarchen, den höhnischen Intellektuellen und dem belehrenden Westen.
Am Tag nach den Parlamentswahlen war ich zu einer Sendung in Radio Swoboda (Freiheit) 1 eingeladen, an der einige russische Intellektuelle teilnahmen. Der Journalist behauptete, dass das Ergebnis dieser Wahlen zweifelsohne eine Niederlage für die liberalen Intellektuellen darstelle. Die anwesenden Intellektuellen wiesen jede Verantwortung für den Misskredit von sich, in den die demokratischen Ideen gefallen sind und beschuldigten das Volk, nicht zu «verstehen», dass die liberalen Reformen nur zu seinem Besten durchgeführt werden sollten.
Wenn man auch die Gefühle eines Großteils der Bevölkerung verstehen kann, so darf man sich doch vom Putin-Regime nichts vormachen lassen. Der Tschetschenienkrieg allein sagt viel aus über diese manipulierte Demokratie und das mögliche Abdriften ganz Russlands in eine Art von Staatsterror.
Die Freiheiten der Medien und der Intellektuellen sind stark eingeschränkt. Neben reellen gesetzlichen Bremsen gibt es noch wirtschaftliche und administrative Barrieren: Um Geld zu verdienen, müssen sich Journalisten und Intellektuelle die Gunst der finanzkräftigen oder der Macht nahe stehenden Gruppen erobern, was in der Putin-Ära einer regierungsfreundlichen Haltung gleichkommt.
Die politischen Freiheiten im weiteren Sinn sind ebenfalls einer großen Erosion ausgesetzt. Die Reform der Arbeitsgesetze und der Politik der «Sozialpartnerschaft» geben de facto das Monopol der Vertretung der Lohnempfänger der traditionellen ex-sowjetischen Gewerkschaft, eine unterwürfige Verbündete der Regierung und anpassungsfähige Partnerin der Arbeitgeber. Die politischen Parteien stehen vor einer Anhäufung von gesetzlichen, administrativen und wirtschaftlichen Hindernissen. Die Putin-Administration strebt ein vollständig kontrolliertes Zweiparteiensystem an, sowohl die Rechte wie auch die Linke. Die Zivilgesellschaft wurde zum Schweigen gebracht oder «ausgehungert»: Die Finanzquellen der Menschenrechtsgruppen sind versiegt aufgrund der Kämpfe gegen die Oligarchen, insbesondere gegen den großzügigen Sponsor Jukos. Die Vereinigungen, die noch tätig sind, genießen entweder die Unterstützung des Kreml, was den nötigen Respekt voraussetzt, oder sie sind derselben Repression ausgesetzt wie die linken Aktivisten oder die kämpferischen Gewerkschaften. Der einzige Unterschied besteht darin, dass jetzt im Westen davon gesprochen wird.
Wie siehst du das Aufkommen von Nationalismus und Rechtsextremismus, von dem so viel in westlichen Medien geredet wird?
Das Aufkommen des Nationalismus ist stark spürbar. Jede politische Gruppierung sieht sich gezwungen, «patriotisch» zu sein, wenn sie die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen will: von der Partei «Vereintes Russland», die an der Macht ist, über «Rodina» (Heimat), die kommunistische Partei von Sjuganov bis zur nationalistischen Partei von Schirinowsky. Nur die Rechtsliberalen stellen eine Ausnahme dar, sie haben es mit einer vernichtenden Niederlage bei den letzten Wahlen gebüßt.
Der Nationalismus macht sich auch durch eine Reihe von rassistischen Verbrechen bemerkbar. Skinheads und Neofaschisten prügeln und töten Vertreter ethnischer Minderheiten Russlands und andere. Auch die Aktivisten linker oder anarchistischer Gruppen sind Zielscheiben faschistischer Angriffe. Der Nationalismus verstärkt sich und breitet sich in der gesamten Bevölkerung aus. Man spürt das nach Attentaten, die systematisch den Tschetschenen zugeschrieben werden, in alltäglichen Gesprächen, in Kommentaren über «Ausländer» oder «nichtethnische» Russen.
Die Interpretation dieses Phänomens ist insofern problematisch, als es widersprüchliche und zweideutige Züge aufweist. Wenn ich Studenten, Arbeiter und andere zum Nationalismus befrage, wird mir regelmäßig geantwortet, dass man hier unter Nationalismus nicht dasselbe verstehe wie im Westen, dass es sich um Patriotismus handelt, um eine Bindung an das große Russland, aber durchaus um eine Öffnung gegenüber allen Nationalitäten, die es in Russland gibt. Zum Großteil entspricht diese Erklärung der Realität. Die eigentlichen Probleme sind die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Misskredit, in den die liberalen Werte geraten sind, die Ressentiments gegenüber dem kriegerischen und imperialistischen Westen mit seinen katastrophalen liberalen Rezepten, der Terrorismus, der die Bevölkerung bis ins Herz der Hauptstadt trifft, und die Tatsache, dass die bekanntesten Oligarchen jüdischer Herkunft sind. 2 Die Leute sind auch der schönen Reden der Verteidiger der Menschenrechte überdrüssig, welche die meiste Zeit über die sozialen Fragen hinweggehen.
Vor dem Hintergrund der Auflösung der Ideologien wird der «offene» Patriotismus zu einem rutschigen Hang hin zu einem rachsüchtigen und aggressiven Nationalismus, der seine Sündenböcke im Westen, bei den Juden oder den Kaukasiern sucht. Den russischen Machthabern ist dies mehr als recht, denn so kann die Unzufriedenheit der Bevölkerung leicht auf diese Art von Zielscheiben umgelenkt werden. Die Technik wurde nicht von Putin erfunden: Das Thema Sicherheit hat überall im Westen einen Ehrenplatz in der politischen Debatte erobert, sehr zum Nachteil der sozialen Fragen. Angewendet auf eine Bevölkerung im Schockzustand kann das zu explosiven Ergebnissen führen…
Vorläufig wird dieser aggressive Nationalismus jedoch nur relativ selten in die Tat umgesetzt. Aber was geschieht nach der Inkraftsetzung der angekündigten liberalen Maßnahmen, nach einem x-ten Attentat, nach einer neuen Kraftdemonstration des Westens? Ich wiederhole, wir sind noch weit von einer faschistischen Explosion entfernt. Mit Ausnahme gewisser Ideologen wie Alexander Prochanow oder Sergej Baburin, die einen rassistischen Diskurs führen, herrscht beim Großteil der Bevölkerung ein nicht formuliertes Gefühl von Ressentiments vor, das aber nicht konkret zum Ausdruck kommt.
Die Haltung der Regierung ist widersprüchlich. Einerseits wurde ein Gesetz gegen den Extremismus erlassen und die Bekämpfung der Skinheads von einigen Regierungsmitgliedern zur Priorität erklärt, andererseits wird das Wort «Extremismus» vor allem auf linke Gruppen und Jugendliche angewendet.
Nach dem 11. September vermischte die liberale Presse Islam, Araber und Palästinenser und denunzierte den «roten Faden» vom russischen Terrorismus im 19. Jahrhundert, von Lenin bis Bin Laden und die «Globalisierungsgegner». Für die Machthaber ist tschetschenischer Separatismus gleichzusetzen mit «internationalem Terrorismus». Dieser Diskurs wurde nach dem Attentat von Madrid wieder gehalten.
Der Rassismus wird toleriert. Untersuchungen über rassistische Verbrechen schleppen sich dahin, die Schuldigen werden oft nur zu geringen Strafen verurteilt oder sogar freigesprochen. In der Praxis neigt die Polizei dazu, den Kampf gegen den Extremismus zu interpretieren als Kampf gegen ethnische Minderheiten (Kaukasier) oder die Anhänger der Opposition, von denen immer mehr - vor allem Jugendliche - verhaftet werden.
Wenn unter anderen Moslems und tatarische Minderheiten angegriffen werden, was macht der Präsident von Tatarstan, Schamiev, in Putins Partei, oder Russland in der Islamischen Konferenz? Mir scheint, man ist offiziell dem Islam gegenüber sehr vorsichtig, weil andernfalls Russland zerfallen könnte.
Unter «ethnischen Minderheiten» versteht man kleine Gruppen, eher arme Leute, in einer Region Russlands. Die kaukasischen und tatarischen Republiken sind davon ausgenommen. Sie stehen unter Kontrolle ihrer Gouverneure, die wiederum kontrolliert werden…
Wenn man den Bereich der Politik und der Ideologien im engeren Sinn verlässt und auf die großen Fragen zu sprechen kommt, mit denen sich die russischen Machthaber zur Zeit auseinandersetzen müssen, werden oft zwei zitiert: die Kontrolle über die Erdölgelder und die Frage des Eigentums. Westliche Kommentatoren waren besorgt über eine mögliche Infragestellung der Privatisierungen der 1990er-Jahre, liberale Moskauer sprachen sogar über ein «neues 1917». Wie steht es wirklich um diese «Bedrohung»? Die Kontrolle über die Erdölgelder ist eng mit dieser Frage verknüpft, denn sie ist die Hauptquelle für Reichtum und Bereicherung. Putin wird nachgesagt, wieder eine staatliche Kontrolle über diese Einkommen einführen, der Kapitalflucht entgegenwirken und die Oligarchen zwingen zu wollen, in die interne Entwicklung zu investieren – manche sagen, dass die Wendung hin zu einem «patriotischen Kapitalismus» bereits vollzogen ist. Die Frage der Erdölgelder hat auch eine internationale Dimension: Die USA, die transnationalen westlichen Firmen investieren in die Produktion, der Westen drängt zur Privatisierung des Erdgases und der Transporte von Erdöl und –gas, oder auch dazu, die Pipelines vom Kaspischen Meer außerhalb russischen Territoriums zu verlegen. Daher stammt auch das (sympathische oder furchterregende) Image Putins als «Widerstandskämpfer» gegen den wilden Kapitalismus. Inwiefern entspricht es der Realität?
Wie alle Phänomene der modernen Zeit, vor allem wenn sie in Russland in Erscheinung treten, so ist das «Phänomen Putin» von Widersprüchen geprägt: Zwischen seinen Worten und seinen Taten, zwischen den Taten selbst, zwischen der Sicht des Westens und der der russischen Bevölkerung usw. Der Alarm wegen eines «neuen 1917» wurde durch die Inhaftierung von Mikhail Chodorowsky, dem Leiter des Erdölunternehmens Jukos, ausgelöst. Wie alle anderen Firmen dieser Dimensionen konnte auch dieses nur florieren dank der Umgehung von Gesetzen, von Hinterziehungen und Entwendungen von Staatsgeldern. Es gibt keinen Zweifel an der Schuldigkeit der Verantwortlichen von Jukos gegenüber dem Gesetz. Natürlich sind sie nicht die einzigen, die das Gesetz umgangen haben. Der Arm des Gesetzes schlägt aber auf politisch selektive Weise zu. Die Jukos-Spitze war den Machthabern ein Dorn im Auge, weil sie die Opposition finanzierte (von den Rechtsliberalen bis zur KP), öffentlich Stellung bezog, Ausbildungsprogramme für Jugendliche entwarf usw. Doch im Gegensatz zu seinem Vorgänger ist Putin fest entschlossen, die Oligarchen von der politischen Sphäre fernzuhalten. Auf wirtschaftlichem Terrain dürfen sie nach Belieben schalten und walten, Putin unterstützt sogar das russische Unternehmertum auf der internationalen Szene. Bei seinen Auslandsreisen erscheint er stets in Begleitung von Unternehmern, internationale Gipfeltreffen enden oft mit der Unterzeichung von saftigen Verträgen für die russischen Manager. Putin unterstützt die Oligarchen, unter der Bedingung, dass sie sich nicht in die Politik einmischen. Die meisten haben das begriffen, und ihre Geschäfte florieren mit dem Segen des Kreml.
Die Eigentumsverhältnisse sind relativ stabil, vor allem bei den Großunternehmen. Kauf und Verkauf treten an die Stelle von erzwungener Kontrolle. Die Machthaber fördern die Monopolisierung und die Konzentration des Reichtums in den Händen der Großunternehmer. Eine Revision der Privatisierungen oder neuerliche Verstaatlichungen scheinen mir völlig ausgeschlossen, im Gegenteil, mehr oder weniger offene Privatisierungen in bisher unberührten Sektoren sind vorgesehen (Gesundheits- und Bildungswesen, Dienstleistungen, Gemeinden, Energie usw.).
Was Russland betrifft, scheint es mir, dass die Grenzen zwischen der Privatwirtschaft und dem Staat, der Politik und der Wirtschaft sehr durchlässig sind. Das gewährleistet jedoch weder die Interessen der Allgemeinheit noch eine bessere Effizienz des Privatsektors. Die Gesellschaft stellt kein Gegengewicht zur Macht der Politiker dar, sie kann den Appetit der Unternehmer, seien es private oder staatliche, nicht in Schranken halten.
Das Thema der Besteuerung der Erdölgelder ist sehr populär geworden, vor allem durch den ehemaligen Chef des Blocks Rodina, Sergej Glasev. 3 Putin konnte ein so wichtiges Thema nicht einem Politiker überlassen, der der Aufmüpfigkeit verdächtigt wird. Er hat es an sich gerissen und tatsächlich einen Gesetzesentwurf über eine höhere Besteuerung der Unternehmen vorgelegt, die Erdöl exportieren. Doch selbst wenn er angenommen wird, bleibt er symbolisch. Die Profite dieser Unternehmen würden nur leicht angeknabbert werden, die Steuern würden in die Staatskassen fließen und wahrscheinlich nicht im Sozialsektor investiert…
Unternehmens- und Kapitalsteuern werden allgemein gesenkt: Senkung der Profit-steuer um 35 bis 25 Prozent im Jahr 2002, Senkung der Vermögenssteuer im Jahr 2001 (Einführung einer allgemeinen Einkommenssteuer von 13 Prozent gegenüber dem fortschrittlichen Steuergesetz, das vorher in Kraft war, geplante Senkung der Sozialsteuer (Abgaben der Unternehmen) von 33 bis 22 Prozent…
Um auf den Widerspruch zwischen dem patriotischen und globalen Putin zurückzukommen, kann man die Linie der Regierung folgendermassen zusammenfassen: Verteidigung der Interessen der russischen Unternehmer auf dem internationalen Markt, Anwendung der Prinzipien des globalisierten Kapitalismus (Privatisierungen, ausgeglichenes Budget, Lockerung der Zügel für die Akkumulierung von Profiten, Unterstützung der konkurrenzfähigen Monopole auf dem internationalen Markt), patriotische Reden (Verteidigung der geostrategischen Interessen Russlands gegenüber dem Westen) und pragmatische Wirtschaftspolitik (Öffnung des russischen Marktes für ausländische Investitionen, wo es nötig ist, Verhandlungen über große Exportverträge).
Carine Clément
Jean Marie Chauvier
- März 2004
Fortsetzung in der nächsten Nummer
In der UdSSR stand in den Reisepässen neben der Staatsbürgerschaft auch die «Nationalität», die jeder wählen konnte, wenn er aus einer der Republiken kam (Russen, Ukrainer, Georgier…) oder aus einer autonomen Region (Abchasen, Tataren, Juden von Birobidschan…) oder ohne Territorium war (Deutsche, Griechen, Juden, Koreaner usw.) Mehrere Oligarchen sind «jüdischer Herkunft». Sie deswegen anzugreifen, ist Rassismus. Wladimir Gussinsky z.B. ist Präsident des Jüdischen Kongresses von Russland (und Eigentümer der Maariv-Gruppe in Israel), Boris Beresowsky hat großen Einfluss bei jüdischen Vereinigungen, die mit dem erwähnten Kongress rivalisieren. Diese Personen haben pro-zionistische und israelfreundliche Reden gehalten, welche die Konfusion aufrechterhalten und Antisemitismus fördern.
siehe Kasten
Carine Clément
ist Soziologin und verfolgt die sozialen Bewegungen in Russland seit dem Beginn der 1990er Jahre mit. Sie lebt seit 2000 in Moskau. Sie hat mehrere Studien über die Gewerkschaften, die Arbeiter- und die Sozialbewegung in Russland veröffentlicht. Wie Jean-Marie Chauvier, schreibt auch Carine Clément für Le Monde diplomatique.
Glasew und der Rodina-Block
Sergej Glasew ist Wirtschaftsfachmann. Er popularisiert «linke Thesen» über soziale Gerechtigkeit, den Kampf gegen die Oligarchen und die Besteuerung der Erdölgelder. Er tat sich bei den Regionalwahlen in Krasnojarsk hervor, bei denen er das zweitbeste Resultat erzielte und zwei rivalisierenden Clans die Stirn bot. Der Rodina-Block wurde auf seine Initiative hin gebildet, um mehrere linke Parteien zusammenzufassen. Mit Dmitri Rogosin schlug der Block immer mehr nationalistische Töne an. Die linken Gewerkschaften traten aus dem Block aus. Doch mit Unterstützung des Kreml, der eine Chance witterte, den Kommunisten eine Konkurrenz «von links» zu bescheren und mit seinem sehr populären Image erhielt Rodina 9,2 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen vom Dezember 2003. Bei den Präsidentschaftswahlen im März 2004 hingegen, ohne Unterstützung des Kreml, geriet Glasev in seiner Parlamentsfraktion in die Minderheit (er wurde als Chef von Rodina abgesetzt) und ins Kreuzfeuer der Medien, deren Kampagne sogar von Rogosin und anderen Emissären des Kreml angeheizt wurde. Er erzielte 4,11 Prozent der Stimmen, ein mit den Parlamentswahlen verglichen enttäuschendes Ergebnis, aber doch ansehnlich angesichts der Pressekampagne gegen ihn.