Die Auseinandersetzung mit den neuen russischen Kapitalisten, auch Oligarchen genannt, erschüttert Russland. Von ihnen werden einige wegen Mord, Diebstahl öffentlichen Eigentums, verbrecherischer Vereinigung und Korruption verfolgt.
Mit direkter Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der Triade-Regierungen (z. B. die US-amerikanische, britische und deutsche Regierung), den großen Privatbanken und "Clearing"-Gesellschaften wie Clearstream (s. Denis Robert und Ernest Backès, 2001; Denis Robert, 2002), haben diese Oligarchen in wenigen Jahren ein gigantisches Vermögen angehäuft.
Die Oligarchen sind vor allem das Resultat der Implosion des bürokratischen Systems im Osten und der kapitalistischen Restauration Ende der 1980er und 90er Jahre. Während der gigantischen und schnellen Privatisierungswelle, die Boris Jelzin Russland auferlegt hat, haben ihn die US-amerikanische Regierung, der IWF und die Weltbank sehr aktiv unterstützt (und zum Teil auch seine Schritte geleitet). Die Privatisierung hat zu einer systematischen Plünderung von Russlands öffentlichem Eigentum geführt, und davon haben die Oligarchen sowie einige Multinationale der Triade profitiert.
Die russischen Oligarchen haben kriminelle und brutale Methoden angewandt, die denen der amerikanischen Gangsterbosse zur Jahrhundertwende sehr ähneln. Nochmals hat sich in der Geschichte eine primitive Anhäufung von Kapital im Chaos und mit Gewalt verwirklicht. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Dieses Mal fanden die Plünderungen unter Schutz internationaler, multilateraler Organisationen statt. Mehrmals schickten sie Missionen von Wirtschaftsexperten und erteilten multilaterale Kredite, um den "Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft" (ein Ausdruck, der nach Bretton Woods geprägt wurde) zu erleichtern.
Joseph Stiglitz (von der Weltbank Anm.d.R.) analysiert den Übergang in Russland mit spitzer Feder. Im fünften und sechsten Kapitel von "Die große Enttäuschung" zeigt er die Verantwortung des IWF und der amerikanischen Staatskasse auf, die die russischen Bürokraten, die zum Kapitalismus konvertiert sind, unterstützt, beraten und gelenkt haben, vor allem Präsident Boris Jelzin. Die angewandten Methoden hatten nichts Demokratisches an sich.
"Wir sollten uns nicht wundern, wenn so viele hitzige Verfechter des Marktes eine beachtliche Ähnlichkeit mit den alten Methoden bekunden: Präsident Jelzin in Russland, der mit viel größeren Machtbefugnissen ausgestattet ist, als irgendein Gleichpositionierter aus westlichen Demokratien, wurde verleitet, die Duma (das demokratisch gewählte Parlament) zu umgehen und die Reformen durch Verordnungen zu verkünden" (J. Stiglitz, 2002, S.184). Die öffentlichen Unternehmen wurden für ein Butterbrot vergeben. "Da die Regierung durch die USA, die Weltbank und den IWF so stark zur schnellen Privatisierung gedrängt wurde, gab sie die öffentlichen Unternehmen zum Schleuderpreis ab" (ebd., S.194). So wurde die Privatisierung zu einer umfangreichen Plünderung, von der die Oligarchen profitierten, indem sie ihre kleine Diebesbeute zur Geldwäsche in den Westen brachten und sie so der Justiz entzogen. "Die Privatisierung, die mit der Öffnung der Kapitalmärkte einherging, hat nicht zur Schaffung von Reichtümern geführt, sondern zur Plünderung der Vermögen. Das war von perfekter Logik. Ein Oligarch, dem es gelingt sich mit Hilfe seines politischen Einflusses milliardenschweren öffentlichen Besitz anzueignen, indem er einen Schleuderpreis dafür bezahlt, wird natürlich versuchen, das Geld außer Landes zu schaffen. Was würde passieren, wenn er es in Russland behielte? Er würde es in einem stark depressiven Land investieren und nicht nur riskieren, dass er kaum Profit macht, sondern auch, dass alles von der nachfolgenden Regierung beschlagnahmt wird, die sich unweigerlich (und mit Recht) beschwert, dass die Privatisierung "ungesetzlich" war. Jeder, der geschickt genug ist, um bei der fantastischen Lotterie der Privatisierung zu gewinnen, ist auch geschickt genug, um sein Geld an der im Aufschwung begriffenen amerikanischen Börse zu investieren oder es auf einem sicheren Geheimkonto in irgendeiner Steueroase anzulegen. Es gab nicht die geringste Möglichkeit, dass sich alles anders abgespielt hätte, und so haben Milliarden das Land verlassen" (ebd., S.193).
IWF und Weltbank haben Russland verschuldet
Der Großteil des geliehenen Geldes wurde unterschlagen und ging in den Westen zurück. Westliche Bankleute, Oligarchen und russische Regierende haben sich bereichert, während die verarmten russischen Bürger die Rechnung zu zahlen haben. "Als die Krise kam, übernahm der IWF die Leitung der Operationen und bat die Weltbank, zur Rettung beizutragen. Vorgesehen waren insgesamt 22,6 Milliarden Dollar. Der IWF würde 11,2 Mrd. geben, die Weltbank sollte 6 Mrd. leihen, der Rest käme von der japanischen Regierung. Bei der Weltbank wurde heiß diskutiert. Es gab viele unter uns, die die Kredite an Russland in Frage stellten.(...) Ungeachtet der Opposition seines eigenen Führungsstabes musste die Weltbank starken politischen Druck der Clinton-Administration, die Russland unbedingt Kredite gewähren wollte, über sich ergehen lassen. (...) Wir sollten auch sehen, dass sich der IWF in keinster Weise besorgt zeigte über die Korruption und die Risiken, die die Nutzung des geliehenen Geldes bedeuten.(...) Und als der IWF aufgeklärt wurde, dass die an Russland gegebenen (geliehenen) Milliarden nur wenige Tage nach Erteilung der Kredite auf Konten von zypriotischen und Schweizer Banken wiederauftauchten, behauptete derselbe, es seien nicht seine Dollar. (...) Nachdem er Russland für eine hoffnungslose Sache Kredite gewährte, hat der IWF Russland noch zusätzlich verschuldet. Was haben sie konkret mit dem verliehenen Geld erreicht? Nichts. Wer wird die Kosten dieses Irrtums tragen? Weder die Funktionäre des IWF, die die Kredite gewährten, noch die USA, die Druck für die Kredite ausübten. Auch nicht die westlichen Bankiers und Oligarchen, die vom Kredit profitiert haben. Der russische Steuerzahler wird es sein" (ebd, S.198, 199, 200, 201).
"Die Staatskasse und der IWF haben sich in das politische Leben Russlands eingemischt. Als der korrupte Privatisierungsprozess eine enorme Ungleichheit schuf, haben die USA, der IWF und die internationale Gemeinschaft den damaligen Herrschenden eindeutig beigestanden, d.h. sie haben sich unwiderruflich mit Politikern verbündet, die bestenfalls die Interessen der Reichen auf dem Rücken des Durchschnittsrussen begünstigen" (ebd., S.226). Joseph Stiglitz fügt hinzu, dass ihm von der Direktion der Weltbank verboten wurde, den in Wa-shington zu Besuch weilenden Generalinspektor der Duma zu treffen, um ihm die Ausmaße der Korruption aufzuzeigen. "Bei der Weltbank hatte man mich angewiesen, ihn nicht zu treffen: sie hatten Angst, seine Äußerungen könnten uns überzeugen" (ebd., S.226).
Die abscheuliche Schuld Russlands
Die Akte über die Verschuldung von Russland und anderen Staaten, die aus der Implosion des ehemaligen Sowjetblocks entstanden sind, wird auf internationaler Ebene, auch in den fortschrittlichen Bewegungen der betroffenen Länder zu wenig diskutiert. Und dennoch, die von Russland unter den oben beschriebenen Umständen gemachten Schulden sind in die Kategorie "verabscheuungswürdig" einzuordnen. Diese Schulden wurden nicht gemacht, um eine Politik zu betreiben, die den Interessen der Bürger zugute kommt. Ganz im Gegenteil. Außerdem wurden die meisten Kredite unter den Augen und im Wissen der Kreditgeber veruntreut. Die Kreditgeber (IWF, Weltbank, Mitglieder des Clubs von Paris und private Kreditgeber) wussten von den strafbaren, ja kriminellen Praktiken der Kreditnehmer. Falls sich die russischen Bürger in Zukunft ein neues Regime zulegten, wäre es ihr Recht, die vereinbarte Schuld zur Finanzierung der Übergangszeit nicht zu zahlen. Genauso wären sie im Recht, wenn sie die Zahlung der geerbten Schulden des ehemaligen diktatorischen und bürokratischen Regimes verweigerten. Dies gilt wahrscheinlich auch für die anderen Staaten, die aus dem ehemaligen Sowjetblock hervorgegangen sind.
Positive Presse im Westen
Als sich im Laufe des Jahres 2003 die russische Justiz die Oligarchen vornahm, bat die große westliche Presse um Milde für sie (auch die westlichen Regierungen, nur leiser, diskreter). Nicht etwa, dass diese Medien die Oligarchen für unschuldig hielten. Vielmehr ging es um die Fortführung der Privatisierungen. Diese Medien halten es für sehr gefährlich, sie in Frage zu stellen, auch wenn Le Monde eine Umfrage des Romir-Instituts zitiert, bei der 77 Prozent der Russen eine Überprüfung der Privatisierungen wünschten (Le Monde vom 23.7.2003). Marie-Pierre Subtil, die Korrespondentin von Le Monde in Moskau, hat mehrere Artikel verfasst, in denen sie die Offensive der russischen Justiz kritisiert ("...sie ermöglicht eine erneute Überprüfung der Privatisierungen." Le Monde vom 27.-28.7.2003), obwohl sie damit übereinstimmt, dass sie ihren Reichtum durch großangelegten Betrug angehäuft haben. Von dem wichtigsten Oligarchen, Michail Chodorkovski (geb. 1963), dem Chef von Yukos 1, sagt sie, er"ist sicherlich kein Chorknabe. Sein Vermögen – das größte Russlands, vom Magazin "Fortune" auf 7,2 Milliarden Dollar geschätzt – hat sich Mitte der 1990er Jahre angehäuft, als sich die ehrgeizigsten und skrupellosesten Russen bei den Privatisierungen öffentliche Besitztümer für ein Butterbrot aneigneten" (ebd.). Gleichzeitig listet die Journalistin eine Reihe von positiven Initiativen dieses neuen Gangsterbosses auf, unter denen auch die Gründung einer internationalen philantropischen Stiftung ist – mit im Verwaltungsrat: Henry Kissinger.
Noch ein anderer Oligarch sollte erwähnt werden: Roman Abramovich (geb. 1966). Im Jahr 2003 hatte er Probleme mit der Justiz. Er ist Chef eines Firmenimperiums, zu dem Sibneft, eine Erdölfirma, RusAl, Aluminiumfabriken und ICN Russia, pharmazeutische Produkte, gehören. Im Jahr 2003 hat er den berühmten britischen Fussballclub Chelsea aufgekauft. Die Holding-Gesellschaft, die ihn berechtigt Besitzer eines solchen Imperiums zu sein, hat ihren Sitz im Zentrum von London. Um der Justiz seines Landes zu entkommen, flüchtete Roman Abramovich im Jahr 2003 nach Großbritannien und suchte dort um politisches Asyl an. Der Financial Times zufolge versuchte er 2003 die meisten seiner Besitztümer in Russland zu verkaufen, um das Geld an einem sicheren Ort anzulegen. Die Financial Times schreibt in einem Editorial, dass sich Russland wieder einmal am Scheideweg befinde: Entweder wird man den Kapitalismus konsolidieren und die Oligarchen, die Wirtschaftsstraftaten begangen haben, amnestieren, was bedeutet, eine gravierende Ungerechtigkeit hinzunehmen oder es gibt eine Revolution. Der Autor des Editorials schlägt angewidert vor, die erste Möglichkeit zu wählen.
"Die Wurzel des Problems liegt in den Entgleisungen des Privatisierungsprozesses in Russland. Wegen des Durcheinanders und der Ungerechtigkeit, die das Aufteilen der Beute bestimmten, werden die russischen Herrscher immer eine wirksame Waffe auf die Kapitalisten ihres Landes gerichtet halten. Letztendlich wird es kaum mehr als zwei Möglichkeiten geben, um aus dieser Sackgasse herauszukommen: Entweder wird eine offizielle Amnestie gewährt, zumindest für die Wirtschaftsdelikte der Oligarchen oder es wird ihnen ihr Besitz weggenommen, also die schreiende Ungerechtigkeit wird akzeptiert, oder eine neue Revolution beginnt. Beide Optionen sind nicht zufriedenstellend. Aber da sie die zweite schon 1917 versucht haben, könnten es die Russen klüger finden, sich dieses Mal mit einer verabscheuungswürdigen oligarchischen Herrschaftsmacht abzufinden" (Übersetzt aus der Financial Times, 21.7.2003).
Der IWF, die Weltbank, die Staatskasse der USA und die privaten Kreditgeber stimmen dem Vorschlag der Financial Times und anderen Kommentatoren der internationalen Presse zu. Eine Amnestie würde auch sie betreffen. Sie sind sowohl Komplizen, als auch Nutznießer und waren direkt in die Wirtschaftsverbrechen verwickelt. Die Transnationalen der Triade, allen voran die USA, sind Anwärter für den Ankauf von großen Teilen der Yukos, Sibneft, und anderen. Im Laufe des Jahres 2003 wurden konkrete Angebote öffentlich gemacht. Die Oligarchen, die Eigentümer von Yukos und Sibneft, haben zustimmend reagiert: Sie wollen Bargeld, um es außerhalb von Russland anzulegen. Schließlich bereiten die Staatskasse der USA 2, der IWF und die Weltbank in Abstimmung mit der Direktion der WTO die Mitgliedschaft Russlands in dieser Institution vor.
Eric Toussaint*
*Komitee für den Schuldenerlass der Länder der Dritten Welt
Weitere Informationen (Französisch, Englisch, Spanisch) auf www.cadtm.org
Yukos, die größte Erdölfirma Russlands, hat den Zusammenschluss mit Sibneft, einer anderen russischen Erdölfirma, angekündigt. Die Fusion würde dieses Gebilde zur viertgrößten Erdölfirma der Welt machen. Sophie Shihab, eine weitere Journalistin von Le Monde, untertitelt ihren Artikel vom 6. August 2003: "Die Yukos-Gruppe, einer der einflussreichsten, aber am wenigsten durchschaubaren Konzerne des russischen Kapitalismus, ist die Zielscheibe der Staatsanwaltschaft und wird von ihr wegen Diebstahl, Mord und Steuerhinterziehung angeklagt. Wladimir Putin spielt die populistische Karte gegenüber der Meinung, die die Überprüfung der Privatisierung fordert."
Zur Haltung der Staatskasse der USA, was den internationalen Handel betrifft, weist Joseph Stiglitz auf eine pikante Episode hin, die in der Zeit spielt, in der er Berater von Bill Clinton war. Er prangert Paul O’Neill an, der Staatssekretär für die Staatskasse unter G.W. Bush war (P. O’Neill wurde 2002 von J. Snow abgelöst). 1994, als er Direktor der multinationalen ALCOA (Aluminiumkonzern) war, hatte er mit Russland ein Kartell der Aluminiumproduzenten geschaffen, um den Preisverfall auf dem Weltmarkt zu begrenzen (ebd.,S.229-231).