Mit dem Lötkolben im Dienst der Revolution baute er Radiosender für soziale Bewegungen auf der ganzen Welt. Während des Krieges auf dem Balkan ermöglichte er mit seinem technischen Erfindungsgeist unabhängigen JournalistInnen aller ehemaligen jugoslawischen Republiken im Alternativen Informations-Netzwerk AIM zusammenzuarbeiten.
Am 29. März 2009 starb Christoph Lindenmaier nach dem Langlaufen an einem plötzlichen Herzstillstand.
Christoph Lindenmaier wächst mit seinen Eltern, seinen Brüdern und seiner Schwester in einem Haus an der Züricher Goldküste auf. Der Vater ist Chemiker, die Mutter lernt Sprachen und interessiert sich für jenen Teil der Welt, den man wegen des Kalten Kriegs nicht bereisen kann. Christoph, 1953 geboren, ist das dritte Kind. Er studiert Medizin, schließt mühelos ab, doch seine wahre Leidenschaft gilt der Elektronik. Der Keller des Elternhauses wird zu seiner Werkstatt. Sein sechs Jahre jüngerer Bruder Patrick teilt seine Vorliebe für Mikrochips, Schaltkreise und Lötkolben.
Die Szene hätte sich auch in einer Garage in Kalifornien abspielen können. Christoph hieße dann Steve Jobs, der wohl etwa zur selben Zeit mit seinen Tüfteleien begann. Christoph erwirbt eine Amateurfunklizenz, wird Mitglied in einem Klub. Auf Kurzwelle verständigt er sich mit der ganzen Welt. Seinen ersten Sender bastelt er in einem Alter, in dem andere Jugendliche sich mit den Grundlagen der Physik abmühen.
Doch in den siebziger Jahren herrscht in Zürich nicht nur eine kalifornische, sondern auch eine sehr subversive Stimmung. Die Jugendbewegung ist alles andere als legalistisch, man besetzt Häuser, konfrontiert die Polizei, den Staat. Christoph schwärmt für Helden anderer Kontinente. Seine Werkstatt hat er vom Keller in die Wohnung im zweiten Stock verlegt, Poster der lateinamerikanischen Guerilla hängen an den Wänden.
Die Stimme der Bewegung
Die ersten Piratenradios kommen auf: Das britische Radio Caroline sendet von einem Boot in internationalen Gewässern aus, Radio Bologna aus besetzten Häusern. Der italienische Sender, ein schwerer Apparat, ist unhandlich und muss in einem Koffer herumgetragen werden. Das bringt Christoph auf eine Idee. Der Zürcher Bewegung fehlt nämlich ein eigenes Medium. Natürlich gibt es die Leserzeitung und die Telefonzitig , aber die erreichen nur einen kleinen Kreis. Und so beginnt das große Abenteuer: mit dem Lötkolben im Dienst der Revolution.
Etwa zur selben Zeit, da der 21-jährige Jobs in Kalifornien mit seinem Kumpel Wozniak Apple gründet, schlägt Christoph seinem Bruder Patrick vor, zusammen eine Firma zu gründen. Sie nennen sie Red-El. Klingt wie Rebell und heißt Red Electronics . Ihr Logo ist nicht ein angebissener Apfel, sondern ein roter Stern. Ihr erstes Produkt heißt nicht Mac, sondern, sehr mysteriös, PTP. In den USA greift Black Power die Vorherrschaft der Weißen an, in Italien erhebt sich der Potere Operaio gegen die Patrons, in der Schweiz gibt es nun PTP, Power to the People . PTP ist eine kleine Aluminiumkiste, ein Miniatursender, konstruiert in der und für die Klandestinität, für Laien ohne technische Kenntnisse einfach zu bedienen. Die Sendung wird vorher auf Kassette aufgenommen, die demontierbare Antenne öffnet sich wie ein Regenschirm. Ein Hügel als Sendestandort ist alles, was es braucht, um in der ganzen Stadt gehört zu werden.
Da Zürich von hügligen Wäldern umgeben ist, ist es kinderleicht, den kleinen Sender irgendwo zu verstecken. Gegen die PTP fahren die PTT 1 schweres Geschütz auf. Aus Bern kommen die Lastwagen mit den Funkpeilgeräten, unterstützt von einem Helikopter. Die Piraten in ihrem Waldversteck können nie lange Robin Hood spielen. Fünf Minuten, dann macht sie der Heli ausfindig. Aber die Zeit reicht, um nicht nur das öffentliche Radio, sondern auch das Fernsehsignal zu stören. Panik in den Palästen, Gelächter in den Hütten. Die Jugendbewegung hat ihre Stimme gefunden, einen ironischen Ton, musikalisch und subversiv. Keine Predigten, sondern eine feine Stimme, die die Bewegung informiert und beweist, dass man die Macht überlisten kann. Indem es ihr diese Stimme verleiht, verhindert das Piratenradio, dass die Bewegung erstarrt, militant wird – es ist eine Spaßguerilla…
Wenn ein Sender abgeschaltet werden muss, startet fünf Minuten später ein anderer. Ein einziges Mal wird ein Sender gefunden, doch die PiratInnen werden nicht erwischt. Bald ist das neue autonome Medium in ganz Europa bekannt (Radio Schwarzi Chatz, Bachtelchraie, Wällehäxe, Banana, später Radio des Femmes, Radio Verte Fessenheim, Continental ). In der Red-El-Werkstatt beginnt die klandestine Massenproduktion.
Die Piraten senden legal
Die Fortsetzung ist bekannt: Dank des Drucks der Piraterie beschleunigt sich die Liberalisierung der UKW-Frequenzen. Kommerzielle «Piraten» und superschlaue Journalisten drängen in die Bresche. Einige Jahre später ist das staatliche Rundfunkmonopol Geschichte. Die Zürcher Radiopiraten fuhren immer zweigleisig und reichten gleichzeitig ein offizielles Sendegesuch ein. Als die Frequenzen verteilt werden, ist das breit abgestützte alternative Lokalradio startbereit – natürlich mit einem Lindenmaier’schen Sender. Außer dem Zürcher LoRa werden nur wenige Radios ihre nichtkommerzielle Ausrichtung behalten.
Die Red-El ist unterdes-sen in den Zürcher Kreis 5 gezogen. Christoph will einen Sender bauen, der vom Bund zertifiziert wird. Der ehemalige Pirat trifft die, die ihn gejagt haben, beeindruckt sie mit seiner Kompetenz, seiner Lebhaftigkeit – und seinen Detailkenntnissen über das Funktionieren ihrer Institution. Der Sender wird schließlich amtlich anerkannt. So viel zum offiziellen Teil der Firma Red-El.
Unter den weniger offiziellen Kunden sind verschiedene mehr oder weniger militante lateinamerikanische Gruppen, die Rat und Unterstützung brauchen. Die einzigen Bedingungen, die Christoph stellt, sind politischer Art. Er will, dass seine Sender den Schwächsten eine Stimme verleihen. Christoph bildet Techniker aus, liefert Material, installiert Rundfunknetze. Er engagiert sich auch in der Kampagne gegen das faschistische Apartheidregime in Südafrika.
Technik gegen den Krieg
In der Ukraine nimmt er 1992 an einer Konferenz engagierter JournalistInnen aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien teil. Sie sind gegen den Krieg, gegen Nationalismus, doch eine Zusammenarbeit ist schwierig. Christoph bietet seine Dienste an, konstruiert ein Modem- und-Mailbox-Netzwerk, eine Art Vorläufer des Internet, das Sarajewo, Belgrad, Pristina und Montenegro via Paris verbindet. Das so gegründete AIM leistet während mehr als zehn Jahren grenzüberschreitende Informationsarbeit.
Sein Engagement gründet auf einer unerschütterlichen politischen Überzeugung, die einige wohl dogmatisch nennen würden. Er geht zu Longo maï, wo seine Geduld, seine didaktischen Fähigkeiten und seine unglaublich rasche Auffassungsgabe geschätzt werden. Dort trifft er auch seine zukünftige Frau Kathi. Alle kennen seinen Tick, diese seltsame Geste, die er manchmal macht: Mitten im Gespräch schließt er die Augen. Es sieht aus, als sei er eingeschlafen. Doch plötzlich ist er wieder da, wild gestikulierend ruft er: Ich hab’s, es ist ganz einfach! Dann verschwindet er drei Tage in seiner Werkstatt, arbeitet wie ein Besessener, gewinnt die verrücktesten Wetten.
Es kommen auch offizielle Kunden. Aus allen Ecken der Welt bekommt er Jobangebote. Er könnte die Firma vergrößern, Filialen eröffnen, wirklich den Steve Jobs spielen. Doch Christoph ist ein bescheidener Typ, ein einzelgängerisches Genie.
Und dann, kürzlich, noch einmal diese seltsame Geste: Mitten im Gespräch schließt Christoph die Augen. Nachdem sie seine Asche beigesetzt hatten in einem Wald oberhalb Zürichs, begriffen seine FreundInnen: Sie werden ihn nie wieder aufwachen sehen, wild gestikulierend und rufend: Ich hab’s, es ist ganz einfach!
Der Renaissance-Traum
Eigentlich hat Christoph den alten Traum der Renaissancedrucker weitergeträumt, die überzeugt waren, die Erfindung der Druckkunst werde das Wissen allen zugänglich machen und dem religiösen Fanatismus ein Ende setzen. Andere züchteten Brieftauben, um Hoffnungsbotschaften zu verbreiten. Steve Jobs dachte, es würde reichen, das IBM -Monopol zu brechen, um das Wissen zu demokratisieren. Auch Christoph vertrat die Meinung, dass Technologie nie neutral sei und man sie deshalb unbedingt in die eigenen Hände bekommen müsse.
Karibische Piraten, einige Männer und wenige Frauen, gründeten im 18. Jahrhundert eine egalitäre Gesellschaft, einen besonderen Ort, den sie Zeitweilige Autonome Zone nannten. In Kalifornien kennt man heute etwas Ähnliches: die Temporary Autonomous Zones TAZ . Und auf einer solchen Insel wartet Christoph auf Steve. Ihre Debatten versprechen lebhaft zu werden. Einer engagierte sich an der Börse, der andere für die Revolution.
Daniel de Roulet *
* Der Schriftsteller Daniel de Roulet war ein Freund von Christoph Lindenmaier.
Sein Nachruf erschien am 16. 4. 2009 in der Schweizer WoZ (Wochenzeitung) in der Übersetzung von Ruth Wysseier. Archipel übernimmt den Artikel in gekürzter Form mit freundlicher Genehmigung der WoZ und des Verfassers.