Im November 2017 kam es infolge der Ausstrahlung einer Reportage der sudanesisch-britischen Journalistin Nima Elbagir über die derzeit in Libyen praktizierte Sklaverei zu mehreren offiziellen Reaktionen betroffener Staaten. Was sind jedoch die politischen Faktoren für diese Situation in Libyen?
Mali hat prompt am 19. November 2017, fünf Tage nach der Ausstrahlung der Reportage, seinen Botschafter aus Libyen abgezogen und den libyschen Geschäftsträger in Bamako zum Protest einbestellt. Das Nachbarland Burkina Faso folgte einen Tag später mit dem Abzug seines diplomatischen Vertreters in Tripolis, Abraham Traoré, «für Beratungen». Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach seinerseits am 22. November – in Gegenwart seines malischen Amtskollegen Ibrahim Boubacar Keïta («IBK») – von «Verbrechen gegen die Menschheit» in Libyen und forderte die Einberufung einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats.
Dies sind nur einige der offiziellen Reaktionen von staatlicher Seite, die auf die Ausstrahlung einer Reportage der sudanesisch-britischen Journalistin Nima Elbagir beim US-amerikanischen Sender CNN über die derzeit in Libyen praktizierte Sklaverei erfolgten. Die libysche «Einheitsregierung» unter Faiez Sarraj – dessen Legitimität unter anderem mit einer weiteren Regierung in Tobruk und ihres «starken Mannes», des Marschalls Khalifa Haftar, konkurriert – ordnete eine offizielle «Untersuchung» an.
Die Reportage der CNN-Journalistin war am 14. November 2017 ausgestrahlt worden.1 Sie erbrachte erstmals den konkreten Nachweis der Existenz von nicht nur sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen, sondern buchstäblich von Versklavung. Zu sehen war etwa der mit versteckter Kamera gefilmte Verkauf von zwei aus Nigeria stammenden Migranten für 1'200 libysche Dinar, umgerechnet rund 700 Euro, bei einer Art Auktion. Insgesamt zwölf aus Nigeria stammende Menschen seien auf diese Art unter ihren Augen verkauft worden, berichtete Elbagir. Bis dahin war zwar die Existenz von sklavereiförmigen Arbeitsbeziehungen für aus Subsahara Immigrierte in Libyen vermutet worden, doch es waren keine definitiven Beweise dafür vorhanden.
Rassismus
Im zerfallenen Staat Libyen, wo lokale bewaffnete Milizen das vormalig staatliche Gewaltmonopol oft auf örtlicher Ebene an sich gerissen haben, eskalierte die brutale Behandlung von subsaharischen Afrikanerinnen und Afrikanern. Bis zu zwei Millionen von ihnen hielten sich bis zum seit 2013 eskalierenden Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Staat auf. Sowohl weil Libyen selbst – mit Petrodollars ausgestattet – bereits seit der Gaddafi-Ära (1969 bis 2011) migrantische Arbeitskräfte anzog und unbeliebte körperliche Arbeiten von ihnen verrichten liess, als auch weil das Land mitunter zugleich als Station bei der Weiterreise nach Europa und insbesondere Italien diente.
Bei der Eskalation im Umgang mit den Migrierten in den letzten Jahren spielen der Staatszerfall und der dadurch freigesetzte Rassismus ebenso eine Rolle wie der in den meisten arabischen Gesellschaften vorhandene strukturelle Rassismus, der mit einer Art arabo-islamischer «Leitkultur-Vorstellung» einhergeht. Letzterer ist auch in anderen Transitländern in Richtung EU wie Marokko und Algerien anzutreffen – erst am vorigen Freitag kam es zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen zwischen jungen Marokkanern und subsaharischen Afrikanern in Casablanca. In Algerien wurden seit zwei Jahren mehrere Tausend Immigrierte aus dem südöstlichen Nachbarstaat Niger festgenommen und mittels Kollektivabschiebungen zurückgeschickt, und der Druck auf Migrierende ohne Aufenthaltspapiere wurde erheblich erhöht. Die circa seit einem halben Jahr bei sozialen Medien zirkulierende Behauptung, Algerien habe Schwarzen generell die Benutzung von Taxis und Bussen untersagt, erwies sich hingegen als Gerücht, das sich jedoch in mehreren Ländern hartnäckig hält.
Kriminelle Geschäfte
Neben diesen ideologischen und politischen Faktoren spielt bei der Eskalation in Libyen aber auch das Geld eine wesentliche Rolle. Infolge des seitens der EU-Mitgliedsstaaten ausgeübten Drucks auf Libyen – sprich: die «Einheitsregierung», aber auch Milizen, aus denen sich de facto die in jüngerer Zeit aufgestockte und aufgerüstete Küstenwache rekrutiert hat – Flüchtende zurückzuhalten und von der Überfahrt des Mittelmeers abzubringen, wurde unter dem Deckmantel des «Kampfes gegen das Schlepperunwesen» Geld in Umlauf gebracht. Dieses wird vor Ort dafür eingesetzt, Milizen dafür zu bezahlen, die Mobilität von Migrierenden zu verhindern, indem sie dieselben faktisch internieren. Wie malische und nigerische Staatsangehörige in Videos mit Zeugenberichten aus Libyen berichten, die derzeit auf zahllosen westafrikanischen Facebookseiten zu sehen sind, hätten die libyschen Wächter zusätzlich ein neues finanzielles Knowhow von kriminellen Banden aus den Herkunftsländern der Migranten erworben.
Diese Banden, die im so genannten Schleppergewerbe tätig sind, weil die Abschottungspolitik der EU besondere Profite auf ebendiesem Feld verspricht, arbeiten mit den libyschen Akteuren mitunter Hand in Hand. Sie melden demnach die bevorstehende Ankunft von Landsleuten an libysche Miliz-Unternehmer, die vormals ihrerseits als «Schlepper» aktiv waren, nunmehr aber eher bei der Zurückhaltung von Migrantinnen und Migranten tätig sind. Von den subsaharischen kriminellen Unternehmern lernten diese, wie das internationale Geldtransfer-Geschäft über Western Union, MoneyGram und andere Finanzunternehmen funktioniert, welches bis vor kurzem in Libyen – das bis 2003 während langer Jahre unter Embargo stand und danach dem «Westen» nur begrenzt geöffnet war – eher unbekannt war. Dieses neu erworbene Wissen nützen libysche Mafiaunternehmer nun, um von den Familien in den Herkunftsländern Geld abzupressen, mit dem Argument, diese müssten bezahlen, um ihre Angehörigen nach einem gewissen Zeitraum von einem Jahr oder mehr, wieder in Freiheit wissen zu können – ein Knowhow, das sie also von den eigenen Landsleuten der Opfer erlernt haben. Nicht zuletzt deswegen argumentieren viele subsaharische Afrikanerinnen und Afrikaner nun: «Unsere Leute werden von den eigenen Brüdern verkauft, wie am Beginn der Kette des internationalen Sklavenhandels» vor 200 bis 400 Jahren.
Proteste
Durch alle subsaharischen Gesellschaften zieht sich eine breite Welle der Empörung. Zumal das Wissen über die aktuellen Geschehnisse in Libyen dort an das im kollektiven Gedächtnis sehr präsente, historische Verbrechen des Kontinente übergreifenden «Dreieckhandels» mit Sklavinnen und Sklaven anknüpft, welcher Afrika ökonomisch um Jahrhunderte zurückwarf. Am vorigen Montag waren etwa erste Demonstrationen in Mali angesetzt, denen die Staatsmacht durch ihre Reaktion gegenüber Libyen kurz zuvorkam.
Doch viele Blicke sind dabei auf europäische Metropolen gerichtet. Einerseits, weil dort eine in vielen afrikanischen Ländern fehlende Demonstrationsfreiheit herrscht – erstaunlicherweise hat die Diktatur Togo auf dem Kontinent eines der formal liberalsten Demonstrationsrechte, das dort dem Regime allerdings als «Ventil» und offizieller «Demokratienachweis» dienen soll. Auf der anderen Seite wissen die meisten Menschen in West- und Zentralafrika, dass viele Entscheidungen zum politischen und ökonomischen Schicksal ihrer Länder ohnehin in Paris und Brüssel getroffen werden, eher als in ihren Hauptstädten.
In Paris gründeten rund 150 Menschen, die im Gewerkschaftshaus nahe der «Place de la République» versammelt waren, eine neue «Koordination gegen die Sklaverei in Libyen» (CCEL). Im Saal waren rund 70 Prozent der Menschen afrikanischer Herkunft, aus so unterschiedlichen Ländern wie den Kapverdischen Inseln, der Elfenbeinküste, der Demokratischen Republik Kongo und Djibouti. Die neue Koordination organisierte Proteste etwa am 2. und am 18. Dezember 2017 – dem internationalen Tag gegen Sklaverei und jenem für die Rechte der Migrantinnen und Migranten.
Im November versammelten mehr oder minder spontane Proteste, zu denen unter anderem Prominente wie der Rapper «Rost» aufgerufen hatten, kurzfristig bis zu 3´000 Menschen. Auf die Strasse gingen Menschen zu dem Thema auch in London oder in Brüssel, unweit der libyschen Botschaft. Sowohl in Paris als auch in Brüssel wollten Polizeikräfte die Demonstrationen durch Einsatz von Gewalt verhindern.
Neben der Einleitung diplomatischer Massnahmen gegen libysche Stellen fordern die Protestierenden in der Regel auch ein Ende der restriktiven Politik der EU, die in ihren Augen erst dazu beiträgt, dass Menschen in Libyen blockiert werden oder im Mittelmeer zu Tode kommen. Unter dem Druck ihrer öffentlichen Meinung stehend, sehen sich viele Staatsoberhäupter in Afrika deswegen zu mindestens verbalen Protesten gezwungen.
In der marokkanischen Hauptstadt Rabat fanden am 27. November ebenfalls Protestdemonstrationen von Angehörigen marokkanischer Migrierter statt, die meist aus relativ entlegenen Städten im Atlasgebirge stammen. Es gibt also auch arabische respektive arabisch-berberische Opfer des Sklavenhandels in Libyen.
- Also genau einen Tag nach dem zweitägigen Treffen der «Kontaktgruppe zentrales Mittelmeer» in Bern (die zwei letzten derartigen Treffen hatten im März in Rom und im Juli 2017 in Tunis stattgefunden) an dem, neben der Gastgeberin Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Regierende aus Frankreich, Österreich, Malta, Italien und Estland sowie, auf der afrikanischen Seite, die Regierungen Libyens, Algeriens, Tunesiens, Malis, Nigers und des Tschads teilnahmen. Zeitgleich veranstaltete «Solidarité sans Frontières» zusammen mit dem «Alarm-Phone Schweiz» eine Pressekonferenz, um die Verlogenheit der europäischen und schweizerischen Politik anzuprangern. Informationen darüber finden Sie auf www.sosf.ch