Im Oktober 2002 nahmen drei Mitglieder des
Europäischen Bürgerforums an einer Studienreise nach Marokko teil*. Wir trafen dort mehrere
Mitglieder der Vereinigung der diplomierten Arbeitslosen (Association Nationale de Diplomés Chômeurs, ANCD)
Die ANCD wurde 1991 von Gymnasiasten und Universitätsabsolventen, die keine Arbeit gefunden hatten, gegründet. Ihr gingen die Komitees von Absolventen der Philosophischen Fakultät voraus, die 1984 entstanden waren. Das Problem der massiven Arbeitslosigkeit von Universitätsabsolventen stellte sich in Marokko ab 1980, als die Regierung beschloss, das Hauptgewicht auf die Frage der Sahara und des Krieges zu legen und sozio-ökonomische Probleme vernachlässigte.
Der Großteil der diplomierten Arbeitslosen kommt aus ärmeren Schichten, die Kinder aus reichen Familien finden im allgemeinen leichter eine Anstellung. Es gibt keine Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Die Ergebnisse der Aufnahmsprüfungen werden gefälscht, Stellen gekauft, es herrscht sowohl auf familiärer als auch auf politischer Ebene Vetternwirtschaft. Die Situation wird dadurch verschärft, dass es keine Arbeitslosenunterstützung gibt.
Den offiziellen Statistiken zufolge gibt es 270.000 diplomierte Arbeitslose, die ANCD schätzt ihre Zahl jedoch auf über 500.000. Es gibt natürlich verschiedene Arten von Diplomen. Die Vereinigung schließt auch Studenten ein, die ihr Studium begonnen haben, aber nicht abschließen konnten.
Zur Zeit hat die ANCD ca. 10.000 aktive Mitglieder. Ihre Hauptforderung ist das Recht auf Arbeit, das im Artikel 13 der marokkanischen Verfassung verankert ist. Sie fordert Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor, wo es noch ein Minimum an Regeln gibt, was nicht der Fall ist im Privatsektor. Sie fordert auch, als Organisation anerkannt zu werden, was zur Zeit der Repression unter Hassan II. nicht möglich war. Jetzt ist sie zwar von den Behörden anerkannt, nicht aber nach dem Gesetz. Sie hat zum Beispiel noch immer nicht das Recht auf ein eigenes Lokal.
Die ANCD wurde früher von den Behörden unterdrückt. Im Mai 1993 wurde eines ihrer Mitglieder in einem Polizeikommissariat getötet. Man erklärte, er habe Selbstmord begangen, aber es wurde ermittelt, dass er an den Folgen von Folterungen gestorben war. Seine Familie weiß bis heute nicht, wo er begraben ist, und niemand wurde in dieser Angelegenheit verhaftet. Trotz der Risiken organisiert die ANCD Demonstrationen, Sitz- und Hungerstreiks. Die Arbeitslosigkeit wächst aufgrund von Strukturanpassungsplänen. Die Privatisierungen allein sind verantwortlich für 25 Prozent der Entlassungen. Die Auslandsschulden fressen etwa ein Drittel des nationalen Haushalts. Zwischen 2002 und 2004 sollen im öffentlichen Dienst 20.000 Stellen pro Jahr abgebaut werden (die Rentner werden nicht ersetzt).
Die ANCD versucht, eine soziale Front gegen die Arbeitslosigkeit aufzubauen und sowohl in Folge von Fabriksschließungen und Privatisierungen entlassene Arbeiter, Studenten, die morgen arbeitslos werden könnten, als auch Gewerkschaften zu vereinigen. Zur Zeit ist das noch nicht gelungen. Sie beteiligt sich auch an Aktionen gegen die negativen Folgen der Globalisierung. In Rabat zum Beispiel hat sie sich den Bewohnern eines Stadtviertels angeschlossen, die sich weigern, riesige Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen, weil die Versorgung von einer Privatfirma, die zu Vivendi gehört, übernommen wurde.
* Siehe Archipel Nr. 102, Februar 2003: Dossier Marokko