Am 28. November 2015 wurde in St. Gallen der Paul-Grüninger-Preis verliehen. Hauptpreisträger ist dieses Mal die andalusische Landarbeiter_innengewerkschaft SOC-SAT, Anerkennungspreise gingen an die Wiener Asylhilfegruppe Refugee Protest Camp Vienna und die Autonome Schule Zürich. Wir publizieren hier einen Grossteil der Laudatio von Ruth Dreifuss.*
«Die Geschichte der Menschheit begann durch einen Akt des Ungehorsams; es ist nicht ausgeschlossen, dass sie mit einem Akt des Gehorsams zu Ende geht.» Dieser Satz wurde von Erich Fromm vor einem halben Jahrhundert geschrieben. Von einem Psychologen und Philosophen, dem die Flucht vom Vernichtungswahn der Nazis gelungen war. Er setzt den alttestamentarischen Mythos des verbotenen Apfels an den Anfang der Geschichte und an das mögliche Ende die blinde Ausführung des Befehls, die Atombombe ab zu werfen. Heute nährt nicht mehr das Risiko des Atomkrieges unsere Zukunftsbefürchtungen. Und die Erinnerung an die Verbrechen der Gehorsamen in Hitlers Deutschland ist nicht mehr so präsent. Dennoch sehen wir uns einmal mehr mit den Folgen des blinden Gehorsams konfrontiert. Denken wir nur an die, die sich Dschihadisten nennen, die Akte des globalen Terrors ausführen, die auf Befehl blind töten und sich in die Luft sprengen. Ich glaube nicht an das Ende der Menschheit, aber die Menschlichkeit muss sich immer wieder neu behaupten und bewähren.
Menschlichkeit motivierte Paul Grüninger und liess ihn Befehle missachten. Er musste handeln, aus innerer Not, konfrontiert mit der drängenden Not der Flüchtlinge, die an der Grenze gestrandet waren. Gestrandete Flüchtlinge sehen wir Tag für Tag auf unseren Bildschirmen, und sie konfrontieren uns mit ihrer Not. Sie fliehen aus ihrer Heimat, in der ihr Leben auf verschiedene Weise bedroht wird: durch den Krieg, durch die Gewalt der Herrschenden, durch die Aussichtslosigkeit ihrer wirtschaftlichen Existenz, durch die Diskriminierung ihres Glaubens, ihrer Gemeinschaft oder ihrer privaten Lebensweise: Flüchtlinge, die an den Grenzen Europas, an den Grenzen der einzelnen Länder Europas und in den Ländern, in denen sie angekommen sind, durch zum Teil unüberwindbare gesetzliche Hürden daran gehindert werden, ein neues Leben aufzubauen.
Was die Bildschirme meistens nicht zeigen, sind die Lebensbedingungen der Menschen, die in Europa angekommen sind und auf einen Beschluss der Behörden warten müssen. Auch die Widersprüche der Gesetze und der politischen/administrativen Umsetzung bleiben den Migrant_innen wie dem grössten Teil der Bevölkerung schleierhaft: Sprachkenntnisse sind verlangt, aber Sprachkurse nicht bezahlbar, Faulenzen ist verpönt, aber Arbeiten darf man nicht; Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf eine persönliche Betreuung und eigene Unterkunft und Einschulung, doch dabei harzt es an vielen Orten. Und bei einem hier lebenden älteren Verwandten zu wohnen geht nicht, wenn der Junge einem anderen Kanton zugewiesen ist. Gewisse Wohnsituationen steigern die Ängste, die Möglichkeit von Konflikten, die Beeinträchtigung der physischen und psychischen Gesundheit.
Geste der Solidarität
Zwei Gruppierungen erhalten 2015 eine Anerkennung der Stiftung Paul Grüninger, die sich gerade dieser Situation angenommen haben. Beide, die Autonome Schule Zürich wie das Refugee Protest Camp in Wien, verfolgen zwei Ziele: Einerseits geht es darum, das Bewusstsein der Bevölkerung und der Behörden über die Situation der Migrant_innen zu wecken, andererseits soll diese Situation soweit wie möglich im direkten Einsatz verbessert werden. Die Verantwortlichen wachrütteln, aber auch handeln – in Eigenregie, je nach Dringlichkeit der Probleme. Sich Gehör zu verschaffen geht nicht auf eine leise Art. Es geht auch nicht, wenn man abgeschoben ist in einem entfernten Flüchtlingszentrum. Aktionen wie die Besetzung von öffentlichen Orten, Demonstrationen, sind notwendige Mittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und oft auch mit den Behörden ins Gespräch zu kommen. Auch wenn Kirchen und Klöster sich «besetzen lassen», bleibt der Marsch von Traiskirchen nach Wien unerlaubt, ist das Untertauchen von Sans Papiers gesetzeswidrig. Sie dabei zu unterstützen ist auch eine kleine Geste des Ungehorsams, eine Geste der Solidarität.
Konkrete Hilfe zu leisten ist, wie das Wiener Beispiel zeigt, umso gefährlicher, wenn die Flüchtlinge sich selber einsetzen. Der Prozess, der ihnen gemacht wurde, sollte abschreckend wirken: der Prozess sollte es verhindern, dass Migrant_innen sich gegenseitig helfen, um auf Umwegen ihren Lebenszielen näher zu kommen. Aber auch für die Autonome Schule Zürich ist es nicht leicht, das selbstorganisierte Bildungsprojekt mit den kostenlosen Deutschkursen durchzuführen. Den Zugang für alle möglich zu machen, unabhängig von der Herkunft und dem Aufenthaltsstatus, ist keine Selbstverständlichkeit und verlangt Ausdauer und finanzielle Unterstützung, am Rande der institutionellen Einrichtungen, die selber nicht einschreiten wollen oder können.
Wiedereroberung der Würde
Die Landarbeitergewerkschaft SOC-SAT geht noch einen Schritt weiter in der Organisation der Migrant_innen, im «Empowerment» der Menschen, die im Süden Spaniens in der Früchte- und Gemüseproduktion arbeiten. Die meisten Migrant_innen ohne legalen Status werden ausgebeutet, leben in selbst gebauten Hütten oder werden in Abbruchhäusern für teure Mieten untergebracht und haben grösste Mühe, ihre Rechte durchzusetzen. Die Region ist auch für die Einheimischen ein Ort der Armut und der Abhängigkeit von den Grossgrundbesitzern. Den Mut zu finden, nicht nur «übliche gewerkschaftliche» Arbeit zu leisten, sondern mit nicht legalen und friedlichen Mitteln die notwendigen politischen, gesetzlichen, gesellschaftlichen Reformen zu fordern, das zeichnet das Sindicato de los obreros del campo aus. Menschen für die kollektive Selbstverteidigung zu organisieren, die ständig befürchten müssen, entlassen oder abgeschoben zu werden, die auf ihren noch so mickrigen Lohn für das tägliche Überleben angewiesen sind, und das über Jahre, ist bemerkenswert. Einige Besetzungen von Latifundien waren dauerhaft: Sie dienten den Menschen, die darauf für sich und im Kollektiv Landwirtschaft betreiben können. Andere sind kurzfristige Demonstrationen. Sie zeigen auf, was das Problem Andalusiens ist: eine Region von Land ohne Menschen und Menschen ohne Land. Menschen, die aus noch ärmeren Regionen kommen, um zu niedrigsten Löhnen für die Konsument_innen des reicheren, nördlichen Europas zu schuften.
Bei allen drei Selbsthilfeorganisationen findet man eine starke, sogar schroffe Öffentlichkeitsarbeit. Bei allen dreien einen Fokus auf das praktische Handeln zur Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse. Am wichtigsten scheint mir die Wiedereroberung der Würde, die so oft auf den Wegen der Migration mit Füssen getreten wird. Die Preisträger_innen beweisen uns, dass diese Wiedereroberung möglich ist, dieser Widerstand erfolgreich sein kann und, wenn notwendig, durch zivilen Ungehorsam und illegal.
Ruth Dreifuss, Schweizer Bundesrätin von 1993-2002, Mitglied der SPS, wohnt derzeit in Genf