Das letzte Wiener Festival «Literatur im Herbst», das im November 2017 stattfand, eröffnete der Schweizer Regisseur, Theaterautor und Essayist Milo Rau. Rau wurde für die Saison 2018/19 zum Intendanten des Nationaltheaters Gent (Belgien) berufen. Dort will er ein auf internationale Tourneen spezialisiertes «globales Volkstheater» etablieren. Wir drucken hier den ersten Teil seiner Rede, in der er sich vor allem mit seinen aktuellen Projekten, dem «Kongo Tribunal» sowie dem an der Berliner Schaubühne organisierten «Weltparlament» beschäftigt.Liebe Freundinnen und Freunde, die letzten zwei Wochen bin ich mit meinem aktuellen Film «Das Kongo Tribunal – die Dokumentation eines zivilgesellschaftlichen Tribunals», das wir im ostkongolesischen Bürgerkriegsgebiet gegen die lokale Regierung, die UNO, die Weltbank und die grossen multinationalen Rohstoffkonzerne durchgeführt haben – durch Deutschland, die Schweiz und Belgien gereist.
Als wir den Film im Juli im Ostkongo in den Bürgerkriegsstädten und Minendörfern zeigten, überreichten die Zuschauer unseren Untersuchungsrichtern und mir, kaum war der Film vorbei, Beweisfotos und schriftliche Zeugenaussagen, sie berichteten vom weiteren Verlauf der Wirtschaftsverbrechen und Massaker, die wir in unserem Film dargestellt hatten – oder von ganz anderen Fällen, deren wir uns annehmen sollten. Denn seit 1996 sind im dortigen Bürgerkrieg, der in Wahrheit ein Krieg um das in der ostkongolesischen Erde liegende Coltan und Gold ist, mehr als 7 Millionen Menschen gestorben in über 1000 Fällen von Massenvertreibungen, Massenvergewaltigungen, oder einfach von – absichtlicher und planmässiger – Unterversorgung.
Wenn wir unseren Film in Hamburg, in Berlin, in Brüssel, in Zürich oder in Genf vorführen, geschieht Vergleichbares: Die Zuschauer kommen zu uns, erzählen von ähnlichen Fällen, fast jede schweizer, belgische, deutsche Firma ist in ein Verbrechen gleichen oder grösseren Massstabs verwickelt wie die zwei Firmen, die wir in dem Film porträtieren. Da fallen Namen wie Monsanto, Glencore, VW, KiK, und je länger man zuhört, desto stärker wird das Gefühl, dass wir alle in einem Alptraum leben, nur eben bei vollem Bewusstsein. Und das war auch das Schlussfazit, das der österreichische Journalist Robert Misik zog, einer der Stenographen unserer Weltparlaments, der so genannten «General Assembly», die vor drei Wochen in Berlin stattfand – ein Parlament all jener, die von europäischer Politik betroffen sind, in unseren Parlamenten aber kein Mitspracherecht haben. Robert Misik hörte sich also drei Tage lang, 20 Stunden lang die Aussagen von Textilarbeiterinnen aus Bangladesh, von Automobilherstellern aus Brasilien, von kongolesischen Minenarbeitern an, und sagte: Das Weltparlament ist kein Ort der Träumer, sondern der Alpträumer. So schrecklich, so absurd, so ungerecht ist die Welt, in der wir leben.
Der Titel dieser Rede lautet «Die Rückeroberung der Zukunft» – denn der Alptraum, von dem ich spreche, hat es an sich, dass er sich nicht nur in die Vergangenheit erstreckt, wie die üblichen Alpträume, von denen man in der Schule hört, sondern auch in die Zukunft. Lassen Sie mich das erklären. Um im Ostkongo eine Mine zu öffnen – also von der Entdeckung der Mine bis zu jenem Tag, an dem der Abbau mit allen Maschinen, Belüftungsanlagen, Unterkünften, Versorgungsketten usw. losgehen kann – vergehen im Schnitt 12 Jahre. Der finanzielle Aufwand dafür beträgt mehrere Milliarden Dollar, Kosten, die sich wegen des Bürgerkriegs oft zu einem Mehrfachen multiplizieren. Zum einen schränken diese Summen die Mitbewerber auf wenige europäische und nordamerikanische Firmen ein – im ostkongolesischen Minensektor gibt es beispielsweise nur eine einzige Firma, die Gold abbaut: die kanadische Firma BANRO, die in meinem Film «Das Kongo Tribunal» im Zentrum steht. Der Neoliberalismus, einst angetreten gegen staatliche Monopole, gefeiert als der grosse Befreier, verhasst als der grosse Deregulierer – denn aus der Zerschlagung der kongolesischen Minenindustrie durch die Weltbank in den 80ern ist BANRO, eine Investmentfirma, überhaupt erst ins Goldgeschäft gekommen – der Neoliberalismus also steht heute nicht mehr für den freien Wettbewerb, sondern meint ein fast absurd monopolistisches System, das an die mittelalterliche Kirche erinnert; ein Wirtschaftssystem, das nicht nur von den Milizen lokaler Regierungen, sondern auch von den Regulierungs- und schliesslich Ethik-Gesetzen europäischer und amerikanischer Parlamente gestützt wird, die mit absurden Auflagen die lokalen Produzenten in die Illegalität stossen. Im Fall des 2010 vom amerikanischen Kongress verabschiedeten Dodd-Frank Act, eines Regulierungsgesetzes, das Kinderarbeit, die Arbeit von schwangeren Frauen etc. in kongolesischen Minen untersagte, verloren geschätzte 2 bis 5 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job in den Minen.
Realismus – realistische Politik, realistische Kunst – kann also nur sein: Jenen Stimmen zu lauschen, die Bescheid wissen – und damit die eigene Sicht der Dinge in Bewegung zu bringen. Was uns aus der Entfernung, eingeschlossen in unsere eigenen Logiken, richtig erscheint, ist oft komplett falsch. Die Gegenwart hat es an sich, den Zeitgenossen zwingend, ja hermetisch zu erscheinen, insbesondere in der heutigen Welt, in der alles, könnte man sagen, «vorbestimmt», da auf Profit getaktet ist. Kommen wir noch einmal zur ostkongolesischen Minenindustrie: Der springende Punkt ist nicht die Gier oder die Amoralität der Rohstoffkonzerne selbst – die kleinen Schürfer sind genauso gierig, und das zeigen wir auch in unserem Film – sondern die komplexen Aktienfonds und Anlegerstrukturen, die hinter diesen Konzernen stecken. Denn können die investierten Milliarden, das hat mir ein Minenmanager von BANRO erzählt, nicht innerhalb von 3 Jahren wieder amortisiert werden, bricht zuerst die Firma, dann der Fonds, dann die jeweilige Rohstoffbörse zusammen – und Europa und die USA stecken in einer Finanzkrise.
Rette sich wer kann, für alle Beteiligten: Da bleibt keine Zeit, um vor Ort Infrastruktur, Bildung, überhaupt irgendetwas Längerfristiges aufzubauen, denn an der Stabilität des Marktes hängt ja unser eigener Reichtum, der Reichtum unserer Wohlfahrtsstaaten und damit letztlich unsere Demokratie. Gleichzeitig ist die Gegenwart, der ganze Glanz unserer Tage, der Alltag und letztlich der Sinn des Lebens von Milliarden von Menschen und Billiarden von anderen Lebewesen im Zeitalter des Finanzkapitalismus nur noch ein Übergangsraum, in dem die Zukunft sich zu realisieren hat. Denn die Zukunft ist verkauft, bevor sie stattgefunden hat – unsere, die Aufgabe der Zivilgesellschaft ist es, sie zurück zu erobern.