Das Europäische Bürgerforum organisierte vom 25. bis 27. Juli 2003 auf dem Hof der Europäischen Kooperative Longo Mai in Limans (Südfrankreich) ein Seminar über Lateinamerika. Auch über die Situation in Kolumbien wurde informiert und diskutiert.
Der nachfolgende Artikel wurde im Februar 2000 von Hector Mondragón und Belén Torres* geschrieben und im August 2003 aktualisiert.
Macht in Kolumbien eine Landreform, und fünfzig Prozent der Gewalt wird unverzüglich verschwinden." Vasquez Carrisoza, Präsident des Komitees für Menschenrechte in Kolumbien, erklärte dies vor dreizehn Jahren. Eigentlich nicht erstaunlich für ein Land in Lateinamerika. Aber es handelt sich heute um eine vergessene oder absichtlich versteckte Wahrheit. Die Aufmerksamkeit ist vor allem auf die letzten Presseerklärungen der Akteure des bewaffneten Kampfes gerichtet, oder auf die neueste Entwicklung des Friedensprozesses, der sich nun schon über zwanzig Jahre dahinschleppt, ohne dass man dahinter die politische Absicht zu erkennen vermag, einen dauerhaften Frieden zu erstreben. Dreizehn Jahre nach der Erklärung von Vasquez Carrisoza hat der Frieden immer noch keine Fortschritte gemacht. Im Gegenteil, die kolumbianische Regierung erhielt im Jahr 2000 1,7 Milliarden Dollar von den USA, um das Land noch mehr zu militarisieren und paramilitärische Gruppen zu unterstützen. Auch der Landbesitz konzentrierte sich noch stärker in den Händen einiger Großgrundbesitzer und Aktiengesellschaften.
Gemeinsam mit Brasilien weist Kolumbien für ganz Lateinamerika die stärkste Konzentration von Landeigentum in Privathänden vor. 1984 verfügten die fünfhundert wichtigsten Landeigentümer über 35 Prozent des besten Ackerlandes. 1999, nach fünfzehn Jahren gewalttätiger Auseinandersetzungen, besaßen sie schließlich 45 Prozent der fruchtbarsten Flächen.
Dies ist das Resultat der Strategie der Armee, paramilitärische Einheiten zu fördern, die den Interessen der Großgrundbesitzer und einflussreichen Finanzinstitute dienen: Der Dollarstrom aus dem Drogenhandel wird in Landkauf investiert (man schätzt den Landbesitz der "Narkos", der Drogenhändler, auf über fünf Millionen Hektaren). Diese Entwicklung sowie neoliberale Maßnahmen für eine strukturelle Anpassung haben einen
großen Teil der bäuerlichen Landwirtschaft ruiniert. Das kürzlich unterzeichnete Abkommen zwischen der Regierung und gewissen paramilitärischen Gruppen ändert die Lage in keiner Weise (die Vereinbarung ermöglicht den Paramilitärs eine Rückkehr ins zivile Leben. Die Regierung gewährt diesen bei Waffenrückgabe völlige Straffreiheit, ungeachtet der Bestialität der begangenen Verbrechen). Es bleiben noch genügend andere, um die schmutzige Arbeit fortzuführen.
Versteckte Absichten
Aber die neuen Landbesitzer verfolgten immer häufiger andere Ziele, als Landwirtschaft auf ihrem Grundstück zu betreiben. Schon 1988 bearbeiteten die Großgrundbesitzer bloß 1,7 Prozent ihres Landes. In Wirklichkeit setzten sie auf Minenprojekte, Erdölbohrungen und Wasserkraftwerke, oder sie spekulierten auf infrastrukturelle Großprojekte im Fluss- oder Landbau. Diese riesigen Landgüter ermög
" Im vergangenen Jahr wurde Alvaro Uribe zum Präsidenten Kolumbiens gewählt; als Rechtsextremer entschied er sich für die militärische Option, um den seit sechzig Jahren dauernden bewaffneten Konflikt zu beenden. Im kommenden Herbst werden Vertreter der kolumbianischen Bauerngewerkschaft ANUC-UR mehrere Länder Europas bereisen. Vom 6. bis 11. Oktober wird in Brüssel ein internationales Treffen stattfinden, um die Situation nach einem Jahr Präsidentschaft Uribes zu beurteilen".
ichten den Potentaten auch eine umfassende politische Kontrolle ganzer Regionen. So erstickten sie jeglichen Widerstand gegen geplante Riesenprojekte im Keim.
Obwohl der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung sehr groß ist (in den 1960er Jahren ungefähr 60 Prozent, im Jahre 2000 immer noch 25 Prozent), stützte sich die Regierung bei der Modernisierung des Landwirtschaftssektors nie auf das Potential der bäuerlichen Landwirtschaft, sondern strebte im Gegenteil die Zerstörung dieser Form von Landwirtschaft an. Beraten wird die Regierung natürlich von nordamerikanischen Landwirtschaftsexperten.
Schon 1966 widersetzte sich eine vom amerikanischen Professor Lauchin Currie geleitete Kommission in ihren Schlussfolgerungen dem Vorschlag, zahlreiche bäuerliche Betriebe zu modernisieren, mit der Begründung, dass dadurch zu viele Menschen im landwirtschaftlichen Sektor verblieben.1 Diese und ähnliche Stellungnahmen beschleunigten die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten. Ein Teil der Bauern und Indianer leistete damals jedoch großen Widerstand: Sie wollten nicht nur eine Produktionsweise verteidigen sondern überhaupt ihre Existenz als kulturelle, soziale und politische Realität.
Heute spielt sich der Konflikt nicht so sehr zwischen bäuerlicher Landwirtschaft und Großbetrieben ab, sondern zwischen einem bäuerlichen Modell und transnationalen Produktionsformen, riesigen
Erdölanlagen und anderen Riesenprojekten. Deshalb sehen auch ausländische Investoren und der nationale Wirtschaftssektor in den Bauern den Feind, der sich auf archaische Weise den großen neoliberalen Vorhaben widersetzt und deshalb - und sei es durch Krieg - ausgemerzt werden muss. Konkret heißt das, dass zwei bis drei Millionen Bauern von ihrem Landstück in andere Regionen vertrieben wurden. Das riesige Unterfangen, das Land von den Bauern zu "säubern", wird meistens nicht direkt von wichtigen Finanzimperien gesteuert. Es ist eher die Konsequenz des höheren Preises, den diese für von Bauern "befreites" Land zu zahlen bereit sind. Die Landeigentümer leisten die schmutzige Arbeit, um das Grundstück anschließend an den Meistbietenden zu verkaufen.
In den nördlichen Regionen hatte die Vertreibung der Bevölkerung durch Paramilitärs unter anderem das Ziel, Infrastrukturen für den Flussverkehr und einen Trockenhafen in Puerto Asis zu bauen sowie den Amazonas mit dem Putumayo zu verbinden. Es geht aber auch um Weg- und Hafenbauten und vor allem auch um eine Straßenverbindung zwischen dem pazifischen und dem atlantischen Ozean, eine Art Panamakanal ohne Wasser. Dies ist für die USA von strategischer Bedeutung, da der Panamakanal sich in einem desolaten Zustand befindet. Weitere Straßenin der pazifischen Region sollen die fruchtbare Bananenregion von Uraba (Venezuela) erschließen.
Ein Parlament im Dienst der Großgrundbesitzer
Die infrastrukturellen Großprojekte und Minen- oder Erdölabbau haben dieses gemeinsam: Um sie möglichst kostengünstig zu verwirklichen, muss die Enteignung des Bodens manu militari vor sich gehen. Dieser Landraub an indianischen und bäuerlichen Familien wird von der Regierung durch ein Arsenal von Gesetzen beschleunigt, die vom Parlament, das mehrheitlich aus Landbesitzern besteht, verabschiedet werden.
Ein Beispiel: Seit 1994 bestimmt ein Gesetz, dass im Umkreis von fünf Kilometern um Erdölanlagen und anderen nicht erneuerbaren Energiequellen die indianische und ländliche Bevölkerung zu enteignen sei. Dieser Gesetzesbeschluss ermöglichte es der BP (British Petroleum) und der OXY (Occidental Gesellschaft) Hunderttausende von Bauern zu enteignen, die in ihren Operationsbereichen arbeiteten. Journalisten von der BBC zeigten auf, wie BP die kolumbianische Armee finanzierte und informierte, die dann ihrerseits paramilitärische Verbände einsetzte, um jeglichen Widerstand der Bauern zu brechen.
Die indianischen und bäuerlichen Gemeinschaften sind immer weniger mit ihrem traditionellen Widersacher, dem Terrateniente (Landbesitzer), konfrontiert, sondern mit internationalen Investoren. So leisteten sie vor allem diesen Projekten heftigen Widerstand. So zum Beispiel 1999: Im November dieses Jahres blockierten Bauern während dreißig Tagen im Süden die panamerikanische Straße.
Etwas weiter im Norden führen fünftausend IndianerInnen der U’was seit etwa zehn Jahren einen erbitterten Kampf gegen die Erdölkompanie OXY. Diese erhielt kürzlich von der Regierung die Erlaubnis, auf dem Land des Indianerstammes Erdöl zu suchen und zu fördern. Unlängst gaben die USA bekannt, Truppen zum Schutze dieser Infrastrukturen, im besonderen für die Erdölgewinnung, entsenden zu wollen. Das Indianervolk führte den Kampf weiter und fand weltweite Unterstützung. Es verkündete, eher kollektiven Selbstmord begehen zu wollen, als zuzulassen, von ihrem Lande verjagt zu werden, zu verschwinden oder die Schlange der im eigenen Lande Vertriebenen zu verlängern.
Die Geschichte wiederholt sich
Von 1946 bis 1957 erlebte Kolumbien bereits eine Periode der Gewalt, angezettelt von den damaligen Machthabern. Über dreihunderttausend Menschen wurden damals umgebracht, Millionen von Bauern und Indianern mussten ihr Land und ihre Region verlassen und sich in Städten oder Landstrichen, die urbar gemacht werden mussten, neu ansiedeln. Diese Ereignisse veränderten die Struktur der Landwirtschaft. Obwohl die Forderung nach Land weit verbreitet war, wurde eine Landreform verhindert und die "grüne Revolution" gefördert, bei der es sich in Wirklichkeit um eine Entwicklung der Landwirtschaft im kapitalistischen Sinn handelte.
Die USA hegten in dieser Zeit die Befürchtung, dass die kubanische Revolution sich auf den Kontinent ausweiten könnte. Sie verlangten deshalb von den lateinamerikanischen Ländern, eine Agrarreform durchzuführen und sowohl die Entwicklung der Kleinbauern als auch der landwirtschaftlichen Unternehmen zu fördern. Aber bevor diese Politik zum Tragen kam, schlossen die beiden traditionellen Parteien Kolumbiens einen Pakt, der diesen schüchternen Reformversuch zum Scheitern brachte. Es wurden Gesetze beschlossen, um die Ausbeutung der Bauern und ihre Abhängigkeit vom Großgrundbesitz neu festzulegen. Diese Situation führte zu einer Verhärtung, und die Bauern besetzten am gleichen Tage 1.200 Latifundien. Sie wollten so eine gerechtere Verteilung des Bodens erzwingen. Die Repression ließ nicht auf sich warten: Pressezensur, Verhaftungen, Folterungen, Morde, Militarisierung der ländlichen Zonen, Einführung von Gesetzen zur Kriminalisierung der Bauernbewegung. Sie wurde durch diese Maßnahmen enorm geschwächt. Gleichzeitig entstanden neue Guerillaverbände. Und so setzte eine Gewaltspirale ohne Ende ein. Die Repression schwächte zwar den Kampf für eine Bodenreform, der Einfluss der Guerillabewegungen nahm jedoch zu.
Mitte der 1980er Jahre verstärkte sich der Widerstand der Indianer, der Bauern und der Gewerkschaften, und der Kampf um Landverteilung begann von neuem. Da beschloss die Regierung ein Gesetz, das den Kauf von Boden mit anderen Handelsgütern gleichsetzte und verbot dadurch dem Institut für Landreform, besetztes Land zu erwerben. So konnte die Repression wiederum ungehindert einsetzen und widerspenstige Bauern wurden umgebracht.
Tausende von Bauern gehen bankrott
1994 wurde im Rahmen einer Gesetzesanpassung an den Neoliberalismus die Rolle des Staates in der Landverteilung aufgehoben. Obwohl es noch viel zu tun gäbe. Von 9 Millionen Hektaren Kulturland werden bloß 5 Millionen bearbeitet. 40 Millionen Hektaren werden für extensive Weidewirtschaft benutzt, obwohl eigentlich nur 19 Millionen dazu geeignet sind. Die Konzentration des Landbesitzes führte zur aktuellen Lage: Die Großgrundbesitzer mit mehr als 1500 Hektaren Land bearbeiten etwa 4 Prozent des Bodens, 72 Prozent benutzen sie für extensive Weidewirtschaft. Betriebe mit weniger als 20 Hektaren Land beackern jedoch 47 Prozent ihrer Flächen.
Die Maßnahmen der strukturellen Anpassung,
Import von Lebensmitteln, die in den Herkunftsländern subventioniert werden, und die Streichung von Programmen für finanzielle und technische Hilfe der Bauern, trieben Hunderttausende von ihnen in den Ruin. Über 500.000 wechselten in der Not auf Drogenanbau, vor allem Kokain und Mohn. Dieses Phänomen weitete sich noch aus, mit verheerenden Folgen für das Ökosystem. 170.000 ha des Amazonaswaldes und Regionen von Altiplano sind davon betroffen. Auf diese Situation reagierte die Regierung mit Repression und behandelte die Bauern wie Verbrecher, statt ihnen Alternativen anzubieten und Landverteilung in Betracht zu ziehen.
Das Gerede über Rentabilität
Das heutige wirtschaftliche Modell in Kolumbien macht die Entwicklung einer bäuerlichen Landwirtschaft unmöglich. Heute wird immer noch vorgeschlagen, die Zahl der Bauern massiv zu verringern. Auch in Mexiko behauptet die Regierung, dass die indianische und bäuerliche Bevölkerung Lateinamerikas wirtschaftlich nicht überlebensfähig sei: Sie sollen ausgebildet werden, um in den Fabriken zu arbeiten oder als Landarbeiter auf den Latifundien. Diese neoliberalen Thesen sind heute völlig überholt, sogar Theoretiker der Weltbank sind sich darin einig2. Trotzdem dienen sie immer noch dazu, die Bauern gewaltsam zu verjagen, weil sie nicht freiwillig in die Städte ziehen wollen. Die Vertreibung der Bauern ist in Kolumbien Teil eines wirtschaftlichen Programms mit militärischen Mitteln. Die Armee bedient sich für die schmutzige Arbeit der paramilitärischen Todesschwadronen. Sie muss sich so weder vor der nationalen noch der internationalen Justiz verantworten.
Die bäuerlichen Organisationen sagen über die Landreform: "Die Landreform ist ein Instrument, um Gewalt zu verhindern und bildet eine solide Basis für einen dauerhaften Frieden und eine Entwicklung auf nationaler Ebene. Um dies zu erreichen ist es unabdingbar, den Bauern die 5 Millionen Hektaren zurückzuerstatten, die von Großgrundbesitzern für extensive Weidewirtschaft benutzt werden sowie die Institutionen für bäuerliche Hilfe und das kooperative System zu verstärken, um den rentablen Charakter der bäuerlichen Ökonomie zu beweisen". 3
Es scheint einleuchtend, die Idee wird sich mit der Zeit durchsetzen: Bäuerliche Aktivität ist ein enorm wichtiger alternativer Weg und nicht ein überalterter Sektor, der entsorgt werden muss. Aber wie viel Zeit und wie viel Gewalt wird es noch brauchen, bis diese einzige Möglichkeit einer politischen Lösung des sozialen und bewaffneten Konfliktes in Kolumbien schließlich wahrgenommen wird?
Hector Mondragón
Belén Torres*
*Berater und Verantwortliche für internationale Arbeit der Bauernorganisation ANUC-UR
Der Artikel wurde vom spanischen auf französisch übersetzt von Paul-Emile Dupret
Currie Lauchin, le Développement économique accéléré, p.86
Siehe Deiniger, 1999, oder Binbswanger , 1995
Dokument der ANUC-UR und des Nationalen Bauernrates, Cartagena, Juni 1999
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