Die französische Kleinbauerngewerkschaft Confédération Paysanne (CP) hielt am 7. und 8. April ihren Kongress in Straßburg ab. Der Ort war bewusst gewählt: Thema des Kongresses war nämlich die Forderung der CP, Ernährungssouveränität in der Europäischen Verfassung zu verankern.
Zum ersten Mal tagte eine Gewerkschaft im Amphitheater, dem großen Sitzungssaal des europäischen Parlaments. Das riesige Gebäude ist eine Demonstration von Macht, Reichtum und Verschwendung. «Pharaonesque!» sagte der südfranzösische Schäfer Antoine zu mir, als wir uns in den dunkelblauen Fauteuils des Sitzungssaales niederließen. Mit uns fragten sich 500 Bauern und Bäuerinnen: Ist das unser Europa? Welches Europa wollen wir?
Was wissen wir über die Europäische Verfassung?
Abgesehen von institutionellen Fragen, wie die Zahl der Kommissäre oder das Stimmengewicht der einzelnen Mitgliedsstaaten drang fast nichts an die Öffentlichkeit. Man wartet noch darauf, dass Polen und Spanien zustimmen, um die Verfassung zu verabschieden. Nun ergreifen kritische Stimmen das Wort. Handelt es sich überhaupt um eine Verfassung? Die Rechtsprofessorin Dominique Rousseau von der Universität Montpellier bezeichnet den Verfassungsentwurf als gefährlichen Hybriden, eine Mischung aus Vertrag und Verfassung, der die Europäer zwingt, ihre Gesetze der Marktwirtschaft unterzuordnen (Campagne Solidaire 183, März 2004). Soll Europa nur ein Wirtschaftsraum sein, genügen Verträge. Eine Verfassung ist nicht notwendig. Soll Europa zu einem sozialen Modell werden, so muss eine Verfassungsgebende Versammlung, deren Delegierte die europäische Bevölkerung wählt, die Verfassung erarbeiten. Dem geht eine Wahlkampagne mit Diskussionen über unterschiedliche Konzepte und Wertvorstellungen, die in dieser Verfassung verankert sein sollen, voraus. Beides war beim vorliegenden Verfassungsentwurf nicht der Fall, denn das Vertragswerk wurde hinter verschlossenen Türen ausgehandelt.
Neoliberalismus als Kern des Verfassungsentwurfs
In Artikel III des Verfassungsentwurfs wird der Binnenmarkt als oberster Politikbereich festgeschrieben. Nicht das soziale und öffentliche, sondern das private Interesse steht darin an erster Stelle. Staatliche Beihilfen für öffentliche Unternehmen, wie etwa Subventionen für das staatliche Bildungswesen oder öffentliche Medien sind wettbewerbsverzerrend und können verboten werden (Artikel III-55 bis III-58). Die Wirtschafts- und Währungspolitik ist nur einem einzigen Grundsatz verpflichtet, nämlich dem der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (III-69). Die Beschäftigungs- und Sozialpolitik (III-97) darf die Wettbewerbsfähigkeit der Union nicht beeinträchtigen. Lohndumping ist somit rechtmäßig. Unter Berufung auf diesen Artikel könnten beispielsweise Unternehmer die Zahlung ihres Anteils zur Sozialversicherung einstellen. Welthandel und Auslandsinvestitionen hingegen gelten als öffentliches Interesse und dürfen nicht behindert werden. In der Verfassung wird das neoliberale Dogma als oberster Wert verewigt. Einmal verabschiedet, sind Änderungen kaum möglich, da sie die Einstimmigkeit der 25 Mitgliedsstaaten erfordern.
Welche Bedeutung kommt in diesem Verfassungsentwurf der Landwirtschaft zu? Wortwörtlich wurde der Text aus den Verträgen von Rom übernommen, die 1957 unterzeichnet wurden, als in Europa die Lebensmittelkarten noch in lebhafter Erinnerung waren. Im Artikel III-123 heißt es: «Ziel der gemeinsamen Agrarpolitik ist es, die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren … zu steigern.» Seit Beginn der 1970er Jahre ist Europa bei der Versorgung mit Lebensmitteln autonom. Die Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wurde jedoch nicht geändert. Man hielt am Produktivismus fest, mit den bekannten Folgen: Überproduktion, BSE, nitratverseuchte Böden und Entvölkerung der Berggebiete haben für die Autoren des Verfassungsentwurfs offensichtlich kein Gewicht. Sie haben keine Sekunde darüber nachgedacht, wie eine andere europäische Landwirtschaftspolitik aussehen könnte.
Was bedeutet Ernährungssouveränität für Europa?
Subventionierte Landwirtschaftsexporte aus der EU und den USA vernichten in ärmeren Ländern Kleinbauern und lokale Märkte. Das Recht, sich zu ernähren und die Art der Landwirtschaft, die die Lebensmittel hervorbringt, selbst zu bestimmen, ist ein fundamentales Recht, das Recht auf Leben schlechthin. Via Campesina hat das Konzept der Ernährungssouveränität auf dem Welternährungsgipfel 1996 erstmals vorgestellt. Die CP fordert nun, Ernährungssouveränität in der Europäischen Verfassung zu verankern. Sie hat zum vorliegenden Verfassungsentwurf ein Gegenmodell erarbeitet, das der Erhaltung der Bauernhöfe und den Erwartungen der Verbraucher in Europa gerecht wird. Hier einige Auszüge: «Die gemeinsame Agrarpolitik muss die Versorgung der gesamten europäischen Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln sicherstellen. Dabei sollen die lokalen und kulturellen Besonderheiten respektiert werden. … Landwirtschaft und Ernährung sind vitale Notwendigkeiten, deren Regelung nicht allein dem Markt unterworfen werden darf.» Die CP fordert:
bäuerliche Landwirtschaft zur Versorgung des europäischen Marktes,
Beschränkung der landwirtschaftlichen Produktion und Vermeidung von Überschüssen,
Anerkennung der bäuerlichen Arbeit durch Preise, die die Produktionskosten decken und auch die Arbeit entlohnen,
Unterstützung für Neueinsteiger in die Landwirtschaft,
Förderung umwelt- und sozialverträglicher Anbaumethoden,
Förderung regionaler Verarbeitung und Vermarktung,
Erhaltung eines lebendigen ländlichen Raumes, der sich auf zahlreiche kleine und mittelgroße Höfe stützt,
Solidarität statt Konkurrenz als wirtschaftliche und soziale Grundlage für das erweiterte Europa,
Verhandlungen für eine Neuregelung des Welthandels ohne Dumping.
Die CP fordert alle europäischen Organisationen auf, während des EU-Wahlkampfes gegenüber Politikern für eine Änderung des Verfassungsentwurfs zu intervenieren. In Frankreich berichteten Fernsehsender, Rundfunk und Presse vom Kongress der CP in Straßburg. Noch ist alles offen: Mehrere Länder kündigten Referenden zum europäischen Verfassungsentwurf an. Es hängt von uns ab, ob die Diskussion über ein Europa, wie wir es uns vorstellen, in Gang kommt.
* Ernährungssouveränität bezeichnet das Recht der Bevölkerung eines Landes oder einer Union, die Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik selbst zu bestimmen, ohne Preis-Dumping gegenüber anderen Ländern.