Sehr geehrter Herr Präsident des Staatsrats, sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder des Staatsrats!
Der Genfer juristische G8-Bereitschaftsdienst und seine zahlreichen Beobachtergruppen (Legal Teams ) sind wegen der schwerwiegenden Ereignisse sehr besorgt, die während des G8-Gipfeltreffens stattgefunden haben, insbesondere zwischen Sonntag, dem 1. bis Dienstag dem 3. Juni 2003. Wir bitten den Staatsrat um volle Klärung sowohl der gewalttätigen Handlungen der Polizei als auch der während dieses Zeitraums von den Ordnungskräften angewandten Strategie.
Diese Ereignisse sind sehr schwerwiegend und es geht darum, alle daraus resultierenden Folgen abzuwägen. Die vor fünf Jahren infolge der Ereignisse von Mai 1998 erfolgte parlamentarische Untersuchung hatte schwerwiegende Funktionsstörungen und Verletzungen der Personenrechte seitens der Polizei enthüllt. Die Mitglieder des Staatsrats und der Polizeichef, Alain Cudré-Mauroux, hatten davon Kenntnis gehabt und uns versichert, dass sie daraus Lehren gezogen haben. Leider hat das neue schwere Verletzungen der Menschenrechte nicht verhindert.
Unsere Beobachtungen und Zeugenaussagen ermöglichten eine objektive und detaillierte Berichterstattung über diese Vorkommnisse, und wir fordern, dass diese aufgeklärt werden:
Polizeiliche Gewalttätigkeiten
Wir haben namentliche Zeugenaussagen von mehr als 50 Personen aufgenommen, die polizeiliche Gewalttätigkeiten erlitten haben, meist unter Umständen, die dies nicht rechtfertigen konnten (Selbstverteidigung). Sie wurden bei ihrer Festnahme geschlagen oder auf der Straße verprügelt, dann einfach stehen- oder liegengelassen.
Am Dienstagabend, als Versammlungen auf Anordnung des Generalstaatsanwalts verboten waren, handelten zahlreiche Polizisten, als wären sie ermächtigt, systematisch Gewalt gegen Demonstranten und Schaulustige anzuwenden. Ab 18 Uhr schlugen manche Polizisten, ohne Uniform und vermummt, grund- und wahllos auf die Passanten ein, wobei sie manchmal metallene Schlagstöcke benutzten. Zahlreiche Personen wurden geknüppelt und dann festgenommen. Zwischen 19 Uhr abends und 3 Uhr morgens meldeten sich ca. 25 verwundete und von diesen Vorkommnissen traumatisierte Personen beim juristischen G8-Bereitschaftsdienst. Diese Handlungen, die einen schwerwiegenden Präzedenzfall darstellen, sind ein Angriff auf die physische und psychische Unversehrtheit der Demonstranten, aber auch der Passanten, Anwohner und Schaulustigen, die von ihrer Arbeit kamen oder ihren üblichen Beschäftigungen nachgingen. Die Polizei hat durch unverständliche Manöver - es gab ja keinen Aufruhr - oft Schaulustige angelockt, um dann auf sie loszustürmen, manchmal ohne Vorwarnung.
Die Anzahl dieser Fälle ist beunruhigend, weil sie eine systematische Praxis aufzeigt, zumal wir sicher nur von einer kleinen Zahl dieser Vorfälle in Kenntnis gesetzt wurden, da nicht alle wussten, dass es die Legal Teams gab. Heute haben zahlreiche Personen beschlossen, gegen die Polizei Anzeige zu erstatten.
Nicht-Identifizierung der Polizisten
Ab Sonntagabend hat sich die Praxis der Polizei verallgemeinert, Kollegen ohne Uniformen, maskiert oder mit Hass-kappe, einzusetzen, die nur mit einer orangefarbenen Armbinde identifizierbar waren (und manchmal laut Zeugen überhaupt nicht identifizierbar) und Metall-Teleskopstöcke trugen. Diese Praxis macht die Identifizierung der Polizisten durch die Opfer ihrer Gewalttätigkeiten sozusagen unmöglich und schafft de facto eine Situation der Straffreiheit. Am Sonntagabend nahm eine Gruppe von ca. 30 so ausstaffierten Polizisten das Kulturzentrum Usine mit übermäßiger Gewalt ein. Mehrere Personen, die den Gebäudeeingang friedlich versperrten, erhielten Schläge durch Metallknüppel auf Kopf, Gesicht und andere Körperteile. Die Polizisten hatten sich nicht ausgewiesen (mehrere anwesende Personen dachten, es handele sich um Mitglieder des "Black Block") und besetzten die Usine ohne Vorzeigen ihres Mandats. Der von unabhängigen Indymedia-JournalistInnen gedrehte Film, für den die Usine das logistische Zentrum war, zeigen sehr klar die Fakten auf (http://italy.indymedia.org/). Drei Personen wurden verwundet. Unsere Beobachter konnten das Gebäude erst 15 Minuten später betreten, und die vor Ort anwesenden Personen berichteten uns über die Beschimpfungen und Rempeleien, denen sie vor unserer Ankunft ausgesetzt waren.
Behinderung der Arbeit der *Legal Teams *
Seit Sonntag, dem 1. Juni wurde die Beobachtungsarbeit der Legal Teams durch die Ordnungskräfte behindert. Zunächst waren es deutsche Polizisten, die uns gegenüber gewalttätig wurden. Zwei unserer Beobachter, die einwandfrei durch ihren Rückenumhang identifizierbar waren, wurden am Sonntag angegriffen, obwohl sie sich abseits des Aufruhrs befanden. Einer von ihnen erlitt eine Fraktur des Ellenbogens durch einen Schlagstock, während er sich den Kopf schützte und "Legal Team, Legal Team" schrie. Sein Umhang wurde ihm dann abgerissen.
Am Montagabend bekamen unsere Rechtsbeobachter verbale und gestenreiche Drohungen (über ihren Köpfen geschwenkter Schlagstock, Bedrohung durch Gummigeschoßgewehr) von Beamten der Schweizer und der deutschen Polizei. Ab Dienstag, den 3. Juni hat uns die Genfer Polizei systematisch an unserer Arbeit gehindert. Um 18 Uhr 30 wurden einem unserer Beobachter Handschellen angelegt und ihm angedroht, nach Hause zu gehen oder verhaftet zu werden. Ein anderer bekam einen Schlagstock auf den Schenkel, als er auf der Straße postiert war. Später nahmen Polizisten Identitätskontrollen unserer Teams vor und teilten ihnen mit, das sie " kein Legal Team hier" haben wollten, und sie drohten, auf sie zu schießen. Eine junge Anwältin des Legal Teams wurde bei einer dieser Kontrollen von einem Gummigeschoß am Bein getroffen, als sie gerade ihre Papiere vorzeigen wollte.
Diese Handlungen verletzen das Vereinbarungsprotokoll, das vom FSL und Ihnen selbst unterzeichnet worden war und ausdrücklich die Legal Teams als Beobachter erwähnt. Dieses Protokoll, das vorsah, die Arbeit der Beobachter nicht zu behindern, war bis zum 3. Juni 2003 in Kraft, im Gegensatz zu dem, was gewisse Polizisten am Dienstagabend behaupteten.
Diese diversen Behinderungen der Beobachtungsarbeit der Legal Teams stehen in flagrantem Widerspruch zu den mündlichen Vereinbarungen mit dem Polizeichef: Dieser hatte uns versichert, dass unsere Arbeit respektiert und unsere körperliche Unversehrtheit nicht gefährdet werden würde.
Gebrauch nicht-tödlicher Waffen
Die Verwendung von Gummigeschoßen bei Demonstrationen ist eine beunruhigende Rückkehr zu einer in Genf seit mehr als 20 Jahren verschwundenen Praxis. Diese Waffen können schwere Verletzungen verursachen, vor allem den Verlust des Augenlichts. (...)
Eine weitere besorgniserregende Tatsache: der massive Gebrauch von Schockgranaten und Tränengasbomben, die aus einer Entfernung von wenigen Metern auf Demonstranten und Passanten geworfen wurden.
Diese Waffen sind jedoch dazu bestimmt, von einer ausreichenden Entfernung aus verwendet zu werden mit dem Zweck, Unbehagen oder Furcht hervorzurufen. Mehrere Personen wurden auf diese Weise verletzt. Eine davon leidet an Ohrenrauschen (eine manchmal irreversible Verletzung). Ein Journalist befindet sich noch immer im Krankenhaus und wartet auf eine Muskeltransplantation am Bein. Uns wurden mehrere ähnliche Fälle gemeldet.
Einschüchterung der Journalisten
Am Dienstagabend (3. Juni) war das Vorgehen der Polizei ganz klar angelegt, die Anwesenheit von Zeugen zu verhindern. Das Auftreten der Polizei den Medien gegenüber war diesbezüglich vielsagend: Journalisten wurden beiseite genommen, ihre Filme und Kassetten beschlagnahmt. Sie wurden manchmal verhaftet und geschlagen, dann außerhalb der Stadt wieder freigelassen. Diese Tatsachen sowie die brutale Durchsuchung des logistischen Indymedia-Zentrums in der Usine sind schwere Angriffe auf die Pressefreiheit.
Verbot der Demonstrationen
Der Beschluss, Versammlungen zu verbieten, stellt einen Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dar, die sowohl durch die Bundesverfassung als durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierte Grundrechte sind. Eine Beschränkung der Grundrechte kann nur unter gewissen strengen Bedingungen erfolgen. Wenn das Ziel der Schutz von Gütern und Personen im Interesse der Allgemeinheit war, wurden im vorliegenden Falle wurden die Bedingungen der Subsidiarität und Proportionalität eindeutig nicht respektiert. In der Tat hätte es ein weniger drastisches Mittel gegeben, um diese Interessen zu schützen: eine strikte Aufsicht über die (friedliche!) Demonstration. So konnte das angestrebte Ziel nicht erreicht werden. Ganz im Gegenteil schuf die massive Präsenz der Ordnungskräfte, die abgestellt worden waren, um dieses Verbot durchzusetzen, Ansammlungen von Passanten, die dann von denselben Ordnungskräften gewaltsam auseinandergetrieben wurden...
Strukturelle Probleme
Das Fehlen eines kohärenten Oberkommandos trug zweifellos zur Nichtbeachtung der Grundrechte der Demonstranten bei. Fünf verschiedene Kontingente waren im Kanton Genf präsent (Genfer, Zürcher, Freiburger, Tessiner und vor allem deutsche). Wir haben schwere Koordinationsprobleme zwischen diesen verschiedenen Polizeikräften festgestellt. Die von der Genfer Polizei (die das Oberkommando innehatte) gegenüber der Legal Teams eingegangenen Abmachungen wurden von der deutschen Polizei und anderen kantonalen Polizeikräften nicht eingehalten. Ein Genfer Abgeordneter wurde von einem Schweizer Polizisten bedroht, obwohl es sich keineswegs um eine Gewaltsituation handelte. Vor Ort musste ebenfalls festgestellt werden, dass ein hochrangiger Genfer Polizeibeamter seiner Stimme unter den Vertretern anderer kantonaler Polizeikräfte kein Gehör verschaffen konnte. Zudem wurden die Aufforderungen der Deutschschweizer und deutschen Polizeikräfte auf dem rechten Ufer oft nur auf Deutsch gemacht, was inakzeptabel ist.
Infolge dieser Ereignisse fordern wir:
dass eine unabhängige Untersuchung das Vorgehen der Polizei aufklärt und dass die Verantwortlichen für die verschiedenen Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden;
dass alles unternommen wird, um die Arbeit der Justiz in den Angelegenheiten zu unterstützen, die sich auf die Demonstrationen gegen den G8 beziehen;
dass gegen Polizisten, die Gewalttaten begangen haben, Disziplinar- und Strafsanktionen verhängt werden;
dass die Verwendung von Masken und Hasskappen durch die Polizei untersagt wird, da diese die Identifizierung verhindern und ihre Straffreiheit begünstigen; jeder Polizist soll seine Erkennungsmarke auf sichtbare Art und Weise tragen;
dass der Gebrauch von Metall-Teleskopstöcken untersagt wird.
dass der Einsatz anderer kantonaler und ausländischer Polizeikräfte in Zukunft auf den Schutz von spezifischen Orten, wie z. B. den Flughafen, beschränkt wird.
Wir danken Ihnen im Voraus für die Aufmerksamkeit, die Sie diesem Schreiben entgegenbringen, und verbleiben mit vorzüglicher Hochachtung
Der juristische Bereitschaftsdienst Genf
G8: Aufruf zur Mitarbeit!
Die "Anti-Rep" Gruppe Lausanne braucht Eure Unterstützung. Uns ist bekannt, dass vom 22. Mai bis 3. Juni 349 Personen verhaftet wurden. Gegen 22 Personen, darunter 8 Personen der "Brückenaktionv" wurde ein Verfahren eröffnet. Die Verhafteten mussten Schikanen, verbale und physische Gewalt über sich ergehen lassen: Schläge bis stundenlanges Ausharren in Gefangentransporten.
Wir suchen weiterhin:
ZeugInnen und Betroffene von Polizeiübergriffen (Gedächtnisprotokolle an unsere Adresse);
Leute, die Gegenanzeigen machen wollen;
Bild- und Videomaterial;
Leute, die interessiert sind, an einer Dokumentation mitzuarbeiten;
Leute, die an "Anti-Rep" Arbeit Interesse haben (besonders Betroffene);
Leute, die Gegenstrategien zur Polizeirepression entwickeln wollen (auch im Hinblick auf den WEF 04)
Wendet Euch an: EA Bern, Quartiergasse 17, 3013 Bern
Tel. 079 603 57 81 (19-21 Uhr), mail: anti-rep@immerda.ch