Die Fragen, die im Leserbrief von Christian Schwager sowie in den verschiedenen Archipelartikeln über die skandalösen Arbeits- und Lebensbedingungen von MigrantInnen in der industriellen Landwirtschaft aufgeworfen werden, sind äußerst komplex. Sie umfassen das allgemeine Konsumverhalten, die Rolle der großen Verteilerketten, den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt oder die Nord-Südbeziehungen, um nur einige der wichtigsten Bereiche zu nennen.Dazu kommt der Druck, der auf die Länder des Südens ausgeübt wird, ihre Märkte für Importe zu öffnen, die Dumpingpraktiken mit EU-subventionierten Landwirtschaftsprodukten und die verheerenden Auswirkungen, welche die massive Emigration für die betreffenden Länder zeitigt... Deshalb erhebt diese Antwort keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. In einem Punkt stimmen wir mit Christian Schwager überein: Ein legaler Status, der den nationalen Normen entsprechende Arbeits- und Lebensbedingungen garantieren würde, wäre der unwürdigen Behandlung vorzuziehen, denen „Sans Papiers“ oder ArbeitsmigrantInnen unter OMI-Verträgen (siehe Archipel Nr. 89) ausgesetzt sind.
Eine Unterscheidung von Menschen in Kategorien aufgrund ihrer Abstammung, ihrer kulturellen Identität oder ihres Wohnortes lehnen wir aber ab. Mit welchem Recht enthalten wir Menschen, von deren Arbeitskraft wir profitieren, ihr Familienleben vor? Mit welchem Recht verweigern wir Menschen, die wesentlich zu Erhalt und Existenzsicherung unserer Gesellschaft beitragen, ihre Grundrechte? Eine Unterteilung der Bevölkerung eines Landes in BürgerInnen und Arbeitskräfte ist für uns ebenso Ausdruck einer inakzeptablen Missachtung des „Anderen“, wie die bundesrätliche Zwei- oder Dreikreise-Politik, die eindeutige Züge von Apartheid aufweist.
In Europa wird die Selbstversorgerlandwirtschaft zunehmend der industriellen Agrarproduktion geopfert. Die traditionelle Bewirtschaftungsweise bezieht die natürlichen Ressourcen einer Region mit ein. Neben der Produktion von Nahrungsmitteln trägt sie maßgeblich zu einer Unabhängigkeit in der Versorgung bei, zum Schutz von Landschaft und Umwelt, sowie zur Erhaltung zahlreicher Aktivitäten und kultureller Werte, die daraus entstanden sind.
Die industrielle Landwirtschaft hingegen nimmt kaum auf die natürlichen Ressourcen Rücksicht: Ihre Produktion ist vom sozialen Leben abgekoppelt, sie betreibt Monokulturen und ist völlig abhängig von ihren Zulieferern und Abnehmern – den Großhändlern. Sie setzt auf kurzfristige Profite, die zum einzig bestimmenden Regulierungsfaktor dieses Systems werden. Die Produktionskosten werden in absoluten Größen kalkuliert, ohne dem Umfeld Rechnung zu tragen. Um eine Tonne Gemüse zu produzieren, braucht es bestimmte Komponenten, wie den Boden oder dessen künstlichen Ersatz, Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel, die Arbeitskraft... Während die erstgenannten Faktoren zu den zwingenden, kaum veränderbaren Grundkosten – in einer Region – gehören, wird die Arbeitskraft zur wichtigsten Variablen in dieser Rechnung. Um die Kosten zu senken, muss sie aufs Äußerste gedrückt werden. Im Kräftespiel des freien Marktes wird die Konkurrenz zwischen Erzeugerregionen untereinander – aufgrund unterschiedlicher Produktionsbedingungen und sozialer Standards – auf die Spitze getrieben. Dabei bleiben jene Produzenten auf der Strecke, die soziale Kriterien berücksichtigen.
Die europäische – ebenso wie die schweizerische – Agrarpolitik vergibt weiterhin den größten Teil der gesamten, direkten und indirekten Subventionen an 20 Prozent der Betriebe. Nutznießer sind einmal mehr die industriellen Einheiten.
Anhand zahlreicher historischer wie aktueller Beispiele lässt sich nachweisen, dass die industrielle Agrarproduktion, die einen hohen Bedarf an Arbeitskräften hat, wie z.B. der Obst- und Gemüsesektor oder die Großplantagen in der „Dritten Welt“, Sklaverei erzeugt und ohne sie nicht auskommt. Denn ohne sie könnten die Gewinnmargen auf den Aktienmärkten nicht „genügend“ gesteigert werden.
In Europa geht die derzeitige Entwicklung – weg von der Selbstversorgungswirtschaft, hin zur Agro-Industrie – gezwungenermaßen mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Beschäftigten einher. Diesem System müssen wir uns entschieden widersetzen. Natürlich bedingt das auch eine grundsätzliche Hinterfragung unserer Gesellschaft: z.B. was für ein landwirtschaftliches „Modell“ wollen wir? Als kleines Land könnte die Schweiz eine Vorreiterrolle übernehmen bei der Ausarbeitung einer Landwirtschaftspolitik, die diesen Namen verdient.
Darüber hinaus sollten wir die allgemeine ökonomische Entwicklung in Westeuropa überdenken, in der ganze Branchen, wie der Tourismus und das Gastgewerbe, die Bauwirtschaft – insbesondere der Straßenbau –, die Konfektion, die Obst- und Gemüseproduktion, Reinigungs- und Pflegedienste ohne ausländische Billiglohnarbeitskräfte zusammenbrechen würden. Dabei handelt es sich um Arbeiten, welche WesteuropäerInnen nicht annehmen, weil sie unter den herrschenden Bedingungen als erniedrigend eingestuft werden. Auf diese Weise entsteht eine ungesunde Hierarchie, die den MigrantInnen die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter zuweist.
Außerdem destabilisiert die Emigration, welche durch das permanente Angebot an unterbezahlter (Schwarz)Arbeit ausgelöst wird, die Herkunftsländer im Süden ganz gewaltig und behindert die lokale Entwicklung, die auf die dynamischen, aktiven Kräfte der Gesellschaft angewiesen ist.
Mit der Veröffentlichung der Studie „Der bittere Beigeschmack von unserem Obst und Gemüse“*, hat das EBF eine breite Diskussion zu diesen Themen begonnen. Wir laden unsere LeserInnen dazu ein, sich daran zu beteiligen.
\Die Broschüre liegt bisher auf Französisch vor („Le gout amèr de nos fruits et legumes“, A4, 128 Seiten) und kann beim EBF bestellt werden. *