Die folgende Chronik schickte uns George Lapierre von seinem derzeitigen Wohnort, dem Bundesstaat Oaxaca. In mehreren Kapiteln * schildert er das Leben in Mexiko und wirft anhand philosophischer und politischer Betrachtungen Fragen zum heutigen Europa auf.
Kehren wir zu der Frage zurück, die uns letztes Mal beschäftigt hat: die Regionalregierungen. Mexiko ist ein Bundesstaat mit einer nationalen Verfassung. Jeder der 32 Bundesstaaten hat eine eigene Verfassung, die natürlich nicht im Widerspruch zu der nationalen Verfassung steht. Jeder Staat ist aufgeteilt in Gemeinden, die letzte politische, administrative und juristische Instanz. Es gibt keine Instanz zwischen der Gemeinde und dem Staat.
Das verfassungsrechtliche Problem der «Räte der guten Regierung»
Die Schaffung der Juntas de buon gobierno stellt ein verfassungsrechtliches Problem dar, und das nicht nur im Bundesstaat Chiapas, wie es der Innenminister der nationalen Regierung vorgibt, sondern auch auf der Ebene des Bundesstaates und der Nation. «Die nationale Regierung will ihre Hände in Unschuld waschen und so tun, als gäbe es kein Problem», sagte kürzlich ein Lokalabgeordneter, der sich zusammen mit anderen Abgeordneten aller Tendenzen weigert, ein Gesetz zur Legalisierung der Zapatistenräte zu verabschieden. Aber wir sind in Mexiko… Die Weisungen in Bezug auf Chiapas lauten, die Bedeutung der zapatistischen Bewegung herunterzuspielen, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, und «dass wir uns in einem Friedensprozess befinden» . In diesem Rahmen wurde die Initiative der Zapatisten offiziell zur Kenntnis genommen.
Es geht nicht darum, die Zapatisten zu ignorieren, sondern sie wie eine unter vielen sozialen Organisationen zu behandeln. Einerseits werden die Sabotage- und Aufsplitterungsversuche fortgesetzt, andererseits macht man gute Miene vor den vollendeten Tatsachen. Ein Beispiel: Die Polizei verhaftete zwei zapatistische Bauern der Gemeinde Miguel Hidalgo bei einem Holztransport und klagte sie des schweren Verbrechens des ecocidio (Zerstörung der Natur) an. In Wirklichkeit hatten diese sich nur geweigert, die mordilla zu bezahlen – einige Geldscheine, damit die Polizisten ein Auge zudrücken. Sie kamen ins Gefängnis. Der mit der Angelegenheit betraute Richter empfing aber die Vertreter der autonomen Gemeinde Miguel Hidalgo und des «Rates der guten Regierung», obwohl ihre Autorität nicht offiziell anerkannt ist. Er ließ schließlich die Bewilligungen für den Holztransport gelten, welche diese Instanzen den beiden Bauern ausgestellt hatten. Letztere wurden freigelassen und freuen sich über diese «Legitimierung der Autonomie».
Der Begriff Territorium wurde von der jetzigen Legislatur aus dem Indigenagesetz gestrichen. Was die Regionalregierung betrifft, so ist sie seit 1917 verboten: Es darf keinerlei Instanzen zwischen den Regierungen der Bundesstaaten und den Gemeinden geben. Also, Ausnahmenzustand in Chiapas? Die Welt der Indigenas ist ein Ausnahmezustand an sich im heutigen Mexiko. Sie wird erst aufhören, es zu sein, wenn der Staat ihre Existenz anerkennt und legitimiert, und das kann noch dauern.
Über ihren Sinn in Bezug auf die Autonomie
Die Juntas de bon gobierno schaffen eine Einheit. Die Welt der Indios ist nicht mehr in viele mehr oder weniger isolierte Gemeinschaften unterteilt, die oft in Kon-flikt miteinander stehen oder einander nicht kennen. Diese Gemeinschaften sind im Rahmen einer höheren Instanz zusammengeschlossen, sie stehen dem Staat gegenüber nicht mehr alleine da und regeln ihre Probleme untereinander. Die autonome zapati-stische Gemeinde stellte bereits ein erstes solidarisches Netz dar, das mehrere Weiler und Dörfer umfasste. Die Junta de bon gobierno ist eine höhere Instanz und ein zweites Solidaritätsnetz zwischen den vier bis sieben Gemeinden, die sie umfasst, und den Dörfern, die zu diesen Gemeinden gehören. Sie erweitert den Austausch und die Kommunikation und stärkt auf diese Weise die Kohäsion und die Einheit des Gesamten.
Die Regionalräte erlauben es den Indios, sich über die Anerkennung einer gemeinsamen Identität wieder zu konstruieren, über das Gefühl einer erweiterten Zugehörigkeit, die nicht mehr nur auf ein Dorf beschränkt ist, sondern ausgeweitet auf eine Region und eine Kultur, in diesem Fall die indianische Kultur des Widerstands. Im selben Sinn entlastet sie die Gemeinden, die im Allgemeinen unter einem enormen politischen Druck stehen.
Mit dieser regionalen Instanz präzisiert sich der Begriff Territorium als Lebensraum, der einem Volk die Mittel für seine Autonomie gibt.
Vom Gedanken des Austauschs und Hühnerdieben
Hier würde ich gerne einige Ideen klarstellen. Der Lebensraum ist ein spiritueller Rahmen in dem Sinn, als es sich um den Raum des Austauschs handelt, der Gegenseitigkeit, sei es mit der menschlichen Umgebung oder mit der Natur, aber der für alle Völker spirituell ist, der Ort der Götter, der Erdgeister, der Quellen, des Mais, der Tiere, des Regens, der Sonne, der Menschen. Ein Volk ist autonom, wenn es sich den Gedanken des Austauschs zu eigen gemacht hat, es verliert seine Autonomie, wenn der Geist des Austauschs jemand anderem gehört, einem protestantischen New Yorker Großkapitalisten zum Beispiel.
Indem man eine Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht, ersetzt durch eine Beziehung, die auf Unterwerfung basiert, reduziert sich und verarmt unsere Vision der Welt und mit ihr unsere Auffassung von Autonomie. Wenn die Bewegung der landlosen Bauern Via Campesina von Nahrungsautonomie oder Nahrungssouveränität spricht, so reduziert sie die Autonomie auf eine Frage des Überlebens. Die Zigeuner zum Beispiel waren nie autonom in Bezug auf ihre Ernährung, weil sie nie die Nahrungsmittel produziert haben, die sie brauchten, sondern Hühner stahlen( was ich spannender finde).
Die Großhändler wollen sich des Geistes des Austauschs bemächtigen und so die Völker versklaven.
Die politische Autonomie, wie sie die Zapatisten mit den Räten der guten Regierung vorschlagen, beruht auf einer kulturellen Autonomie, einer Weltanschauung, die nicht dieselbe ist wie die des New Yorker Großkapitalisten, von dem wir eben sprachen. Hier ist alles eine Frage der Gesinnung.
Wo es um Prestige, Kleider und Medizin geht
Autonomie ist also eine Frage der Einstellung: Jedes Volk gestaltet auf seine Art die Beziehung zu den anderen über seine Sitten und Bräuche, das sind seine Werte. Der Verlust der Autonomie geht über die Unterwerfung des Denkens, wenn die westlichen «Werte» 1 Überhand nehmen und sich als Lebensform aufdrängen. Werte heißt nicht die proklamierten sondern die effektiven Werte, die eine Praxis hervorbringen, ein Verhalten, eine Art, sich zu kleiden zum Beispiel, die implizit von der Gesellschaft anerkannt sind. Die Veränderung der Werte sieht man, wenn eine junge Indiofrau den reichbestickten huipil ihrer Gemeinschaft ablegt und ein Kleid von der Stange kauft (oder wenn eine junge Mestizin das Kleid von der Stange gegen einen huipil eintauscht). «Man überschüttet uns mit Ideen und Bräuchen, die nicht die unsrigen sind. So wollen sie unsere Werte und ein gemeinsames Leben zerstören, das auf dem Respekt vieler Kulturen basiert, so wie wir, die indigenen Zapatisten, sie proklamieren». 2
Auf dieser unsichtbaren Linie, dieser meist unbeachteten Grenze, die zwei Welten trennt, zwei rationale Weltanschauungen, spielen sich Sieg oder Niederlage ab. Die westliche Medizin sieht den Menschen auf ihre Weise. Sie hat Konzepte, die aus der westlichen gesellschaftlichen Organisation hervorgehen, ausgehend von diesem besonderen Kosmos, dieser besonderen Denkweise der westlichen Gesellschaft. Die chinesische Medizin sieht den Menschen anders. Die indianische Medizin ebenfalls. Die Medizin der Maya-Völker bezieht sich auf ihre eigene Konzeption des Menschen und des Universums, in dem die kosmischen Kräfte kalt-heiß, trocken-feucht im Gleichgewicht sind. Was auch immer man denken mag, die Wissenschaft ist nicht neutral, sie ist einer Weltanschauung unterworfen, die ihrerseits von einer sozialen Organisation herrührt. Das gilt für alle Bereiche. Man kann zum Beispiel nicht behaupten, im Bildungswesen autonom zu sein, wenn man einfach getreu die Denkweise kopiert, die uns beherrscht.
«Denn die Autonomie ist grundlegend für die indigenen Völker, denn die Autonomie gibt uns das Recht zu denken, zu entscheiden, uns zu organisieren und zu regieren wie Völker, im Einklang mit unserer Art zu denken, im Einklang mit unseren Kenntnissen des Lebens und der Welt, im Einklang mit unserer Kultur als Völker.» 3
Vom Übel des espanto 4 und vom Tod als Selbstmord
Ein Volk legt seine Werte, Bräuche, Sprache, Kleidung nicht leicht ab. Es muss dazu gezwungen werden, durch die Umstände oder durch Waffengewalt. Selbst unterworfen, besiegt, besteht es auf beharrlich darauf, zu existieren. Sein Geist ist am Körper festgemacht. Man muss auf sein Denken einwirken, es erschrecken, ihm den Spuk austreiben. Leon Portilla sagt: «Das Massaker von Acteal und die Massaker während des Bürgerkriegs in Guatemala, von denen Rigoberta Menchu spricht, sollten jene in Angst und Schrecken versetzen, die die Zapatisten unterstützt haben und jene, die der Gewalt der Armee und der Paramilitärs widerstehen wollten. Sie sollten für immer schweigen. Es erinnert an die Schriften von Bernal Diaz de Castillo über die Massaker der Indianer durch Pedro de Alvarado: ‚Gewisse sagen, dass man nach ihrem Gold trachtete. Ich denke hingegen, dass man sie einschüchtern und vor Schreck erstarren lassen wollte’».
Unterwerfung beginnt mit Terror, danach wird sie hinterhältig und heimtückisch. «Jeder Tod ist ein Selbstmord», schrieb Borges. So verhält es sich auch mit dem Tod der Völker.
Wir .sind geneigt, nur die politische Autonomie zu sehen, wir kennen nicht den kulturellen Sockel, auf dem sie beruht. Politische Autonomie entsteht durch kulturelle Rekonstruktion, durch «ethische Rekonstruktion». In Chiapas war diese kulturelle Rekonstruktion zum Großteil das Verdienst von Samuel Ruiz, Bischof von San Cristobal, und seinem Team von indianischen Katecheten, die in diesem Sinn ausgebildet wurden. 5 Die politische Autonomie kam danach, um die erste Bewegung der sozialen Rekonstruktion und der Bewahrung der Werte zu krönen.
Von alten Lebensweisheiten und den Bärtigen
In der Alten Welt haben alte Lebensweisheiten in gewissen Teilen der Gesellschaft überlebt. Diese Weisheit ist Widerstand gegen den sozialen Zerfall, nur von dieser Weisheit aus kann ein kollektives Leben wieder aufgebaut werden. Politaktivisten aller Couleurs kennen sie im Allgemeinen nicht, sie neigen dazu, das Pferd vom Schwanz aus aufzuzäumen. Diese Ethik, die von den Aufständischen, den Rebellen und den Kriegern der Alten Welt praktiziert wurde, wird noch immer nicht als fundamentale Forderung für ein anderes Leben angesehen, das kommt vielleicht eines Tages.
Diese Ethik hat nichts zu tun mit der Moral der bärtigen Christen, Juden oder Mohammedaner, nichts zu tun mit der Moral der Religion. Ihr Fundamentalismus und Rigidität der Sitten, oder Puritanismus, sind keines-wegs eine Kritik der Entfremdung, aber eine blokkierte spirituelle Haltung, rein emotionell, von der Entfremdung, ihrem treuen Begleiter, diktiert.
George Lapierre
- Die Anführungszeichen sind insofern nötig, als diese «Werte» negativ sind und das Phänomen der sozialen Implosion berühren, von dem ich vorher sprach. Alle Werte haben zu tun mit dem Streben nach Prestige, nach Anerkennung. Ein Tzeltal-Indio ist angesehen, wenn er aufgrund seiner Arbeit in der Gemeinschaft einen hohen Posten innehat, ein «Westlicher», wenn er ein Auto mit Allradantrieb besitzt.
2/3. Brief des Commandante David, der am Forum der Via Campesina in Cancun im Sptember 2003 verlesen wurde
Wenn uns unter dem Einfluss der Angst der Geist verlässt und wir kraftlos werden
Siehe das Vorwort von André Aubry der französischen Übersetzung des Buches von Guiomar Rovira Zapata vive