GESTERN - HEUTE - MORGEN: Viele Grüße aus Mexiko. Über den Unterschied zwischen Protest und Widerstand

de George Lapierre, 9 nov. 2004, publié à Archipel 120

Die folgende Chronik schickte uns George Lapierre von seinem derzeitigen Wohnort, dem Bundesstaat Oaxaca. In mehreren Kapiteln schildert er das Leben in Mexiko und wirft anhand philosophischer und politischer Betrachtungen Fragen zum heutigen Europa auf.

Marcos spielt auf diesen beiden Registern - sozialer Widerstand und sozialer Protest - die nicht das Gleiche bedeuten. Widerstand gehört in den Bereich der Kultur, Protest in den der Politik. In der zapatistischen Bewegung sind sie einander begegnet. Die Frage ist nun, was Überhand gewinnt.

Der Widerstand der Indios kann in die Protestbewegung integriert sein und schließlich zu einer politischen Bewegung werden. Das geschieht, scheint mir, mit der ANIPA (Nationale, plurale Indigena-Versammlung für die Autonomie) und mit anderen Indio-Organisationen. Oder umgekehrt, die Protestbewegung versucht, ein kollektives Leben aufzubauen. Hier den indianischen Teil wieder zu finden, ist schwieriger.

Es ist wichtig, zwischen diesen beiden Registern zu unterscheiden. Das hat die zapatistische Bewegung bisher getan. Die Caracoles zeichnen deutlich die Grenze zwischen dem Aufbau der Autonomie und dem politischen Protest.

Marx ist Monotheist, obwohl er es immer verborgen hat, so wie Hegel und wie die meisten Bewohner der westlichen Welt, ob sie politisch engagiert sind oder nicht. Für sie ist die Welt eine Einheit - das ist verständlich, das ist ihre Welt, das ist die Welt nach Hegel. Für Hegel ist die herrschende Zivilisation der Ausdruck des Geistes, und für Hegel ist der Geist unteilbar und universal. Alle Zivilisationen, die heute beherrscht werden, sind nur Folgeerscheinungen des Geistes. Was ist das Ziel des Geistes? Es ist das Bewusstsein seiner selbst, d.h. die Konzeptualisierung, die über die Objektivierung geht. Die Objektivierung, der Moment, in dem die Entfremdung am grössten ist, geht der Konzeptualisierung oder der Revolution voraus. Das ist das Schema von Marx und den Marxisten. Die herrschende Welt ist Trägerin der Revolution, und die westliche Welt Trägerin eines universalen Projekts. Früher war die herrschende Welt die Welt Hegels, die zur bourgeoisen, westlichen Welt geworden ist. Heute umfasst sie die gesamte nördliche Hemisphäre, doch sie hat ihre ursprünglichen Merkmale behalten. Aus diesem Grund verwende ich die Ausdrücke westliche Welt, Warenwelt** oder herrschende Welt. Die Bewohner dieser Welt sind diese pathetischen, wehrlosen Wesen wie Sie und ich.

Genauer gesagt: Ich denke, dass sowohl Hegel als auch Marx die sogenannte westliche Welt sehr gut beschreiben, eine Welt, in der der Geist so sehr entfremdet ist, dass er totalitär wird. Die Tatsache, dass er sich objektiviert hat, heißt nicht, dass er sich zurückbesinnt und dass es zu einer Revolution kommt. Es heißt, dass er jede andere Form des Geistes zerstört und einen sozialen Abgrund schafft, der immer tiefer wird, je mehr er sich ausbreitet und je länger er sein Werk der Zerstörung fortsetzt. In diesem mehrdimensionalen Universum mit den vielfältigsten Realitäten ist die westliche Welt nicht die einzige Welt, auch wenn sie es langsam zu werden scheint. Sie ist die Verwirklichung eines katastrophalen Geistes. Es gibt andere Verwirklichungen des Geistes, es gibt andere Realitäten. Leider sind diese anderen Realitäten oder Kulturen oder Gesellschaften von der zerstörerischen Kraft der Warenwelt bedroht.

Das Problem mit den Monotheisten ist, dass sie sich eine Verstrickung mehrerer Universa nicht vorstellen können, sie sehen in den Kulturen nur Archaismen. Man könnte aber genau so gut in der herrschenden Welt eine Ausnahme sehen, einen fatalen Ausrutscher, der vor einigen Jahrtausenden stattgefunden hat und der im Lauf der Zeit dieses degenerierte Monstrum hervorgebracht hat, das wir Zivilisation nennen.

Für die Monotheisten gibt es nur einen Geist und daher nur eine Realität, die totalitäre Welt der Monotheisten. Für sie gibt es keine anderen Realitäten, nicht einmal alle Kulturen, die existieren, werden als solche betrachtet. Sie setzen sich weiterhin für ein universales Projekt ein und verachten oder ignorieren die Kulturen, oft sogar ihre eigenen. Manchmal versuchen sie, sie in ihren Kampf zu integrieren. Meiner Meinung nach ist es ein vergeblicher Kampf, denn er folgt denselben Denkschemen wie denen, die in der totalitären Welt vorherrschen, es ist eine falsche Kritik, von der sich der Totalitarismus nährt. All diese Aktivisten schreiten in derselben Schlachtordnung voran wie die herrschende Welt.

Im Gegensatz dazu sind alle Kulturen, die existieren oder versuchen, sich zu rekonstituieren, eine lebende Kritik des Totalitarismus, allein schon, weil es sie gibt.

«Este derecho (a la autonomia) nadie lo debe quitar, porque quitarle la autonomia a un pueblo es quitarle el derecho a la vida, a la creatividad, a la organizacion y al desarollo 1». (Niemand darf das Recht auf Autonomie wegnehmen, denn einem Volk die Autonomie wegnehmen heißt, ihm das Recht auf Leben, auf Kreativität, auf eigene Organisation und Entwicklung wegzunehmen).

Die Strategie ist folgende: Die eigene Autonomie entwickeln und stärken und sich dem Widerstand der Völker anschließen, ihren Kampf für Autonomie unterstützen mit Hilfe eines Solidaritätsnetzwerks zwischen allen sich im Widerstand befindenden Kulturen:

«Por eso, los zapatistas, reclamamos, exigimos y ejercemos todo ese derecho à la autonomia y a la libre autodeterminacion para todos los pueblos indios de Mexico y del mundo 2». (Daher verlangen und fordern wir, die Zapatisten, das Recht auf Autonomie und auf die freie Selbstbestimmung für alle indianischen Völker Mexikos und der Welt.)

Der Kontakt zwischen oppositionellen Kräften innerhalb der herrschenden Welt und den Bewegungen für kulturelle Autonomie ist eine unausweichliche Herausforderung: Geist gegen Geist. Das «Aschenbrödelsyndrom», von dem Marcos sprach (siehe Archipel Nr. 119), ist der Ausdruck dieses herrschenden Geistes, der von seinen guten Absichten überzeugt ist, und der sich nicht nur in einen gläsernen Schuh einschleicht, sondern in alle Bereiche, und meistens auf eine sehr subtile Art und Weise. Auf dem Spiel steht unsere Vorstellung von Reichtum, also, viel Glück den Zapatisten!

George Lapierre

1.Brief des Comandante David

2.Ibid.