Was ist eigentlich ein «Extremist»? Antifaschisten sollten nicht gedankenlos von «Extremismus» reden. Bei den Bezeichnungen «radikal» und «extremistisch» handelt es sich nicht um Begriffe des Rechts. 3. Teil
Der Staatsrechtler und Verfassungsrichter Gerhard Leibholz bezeichnete in verschiedenen Publikationen den «Totalitarismus» nationalsozialistischer und kommunistischer Provenienz als «negatives Gegenbild» zur «freiheitlich demokratischen Grundordnung».
Diese These findet sich gleichermaßen in einigen Kommentaren zum Grundgesetz wieder. In dem von Maunz/Dürig/Herzog verfassten heißt es, dass die im Artikel 18 erwähnte «freiheitlich demokratische Grundordnung» als «Gegenposition» zum «Totalitarismus» zu verstehen sei. Dies verpflichte den Staat dazu, alle auf den Totalitarismus «abzielende Bestrebungen von vornherein zu verhindern». Mit «Totalitarismus» war keineswegs nur der vergangene Nationalsozialismus, sondern auch, ja sogar zum größeren Teil der höchst lebendige Kommunismus gemeint. Mit bemerkenswerter Offenheit haben die Grundgesetzkommentatoren selbiges an anderer Stelle folgendermaßen formuliert: «Blickt man auf die erlebte Vergangenheit und die erlebte Gegenwart jenseits ›der Mauer‹ und ›des Todesstreifens‹, so wird eigentlich unmittelbar einsichtig, was alles zum Begriff der ›freiheitlich demokratischen Grundordnung‹ i.S. des Grundgesetzes gehört.»
Diese Stellungnahme war deutlich genug. Tatsächlich hatte die Totalitarismusdoktrin, die man mit Fug und Recht als «Weltanschauung des Grundgesetzes» ansehen kann, eine primär antikommunistische Stoßrichtung. Die linker oder gar kommunistischer Neigungen unverdächtige Gesine Schwan hat dies auch ohne Weiteres eingeräumt, wenn sie in ihrem 1999 erschienenen Buch über «Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland» schrieb: «So entstand der deutsche Antikommunismus als prinzipielle Überzeugung von der politischen Legitimität der bundesrepublikanischen politischen Verfassung genetisch aus den Erfahrungen mit dem Stalinismus; inhaltlich bekannte er sich wesentlich zur Freiheit, zur westlich-liberalen Demokratie, bedeutete also die Absage an die totalitäre Zwangsherrschaft der kommunistischen Einparteiendiktatur (…).»
Mit dem Hinweis auf die noch dazu arg verkürzte Extremismuslegende und Totalitarismusdoktrin hat die Bundesrepublik ihre strikt antikommunistische Außen- und Innenpolitik begründet. In außenpolitischer Hinsicht wurden alle Verhandlungen mit der «totalitären» Sowjetunion und ihren ebenso «totalitären» Satellitenstaaten abgelehnt. Ob Stalins Wiedervereinigungsangebot vom März 1952 ernst gemeint war oder nicht, ist dabei noch nicht einmal erkundet worden. Immerhin wurden drei Jahre später wieder diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufgenommen. Doch dies geschah mehr als widerwillig und ausschließlich mit der Sowjetunion. Beziehungen mit den übrigen Ostblockstaaten hatte und wollte man nicht unterhalten. Die Existenz der DDR wurde nicht zur Kenntnis genommen. Sie war und blieb die «so genannte DDR» und wurde bis weit in die sechziger Jahre hinein schlicht «Zone» genannt. Diese, wie wir heute wissen, falsche und verfehlte Außenpolitik erfolgte keineswegs aus rationalem Kalkül, sondern war irrationalen Ängsten und ideologischen, genauer, antitotalitären, und noch genauer, antikommunistischen Motiven geschuldet.
Der antikommunistischen Politik im Innern lag ebenfalls eine sehr einseitige Auslegung und Anwendung der Extremismuslegende und Totalitarismusdoktrin zugrunde. Ein gutes oder vielmehr schlechtes Beispiel hierfür ist das Verbot der KPD von 1956, das heute leicht in Vergessenheit geraten ist, deshalb aber – es könnte sich schließlich wiederholen – hier noch einmal in seiner Entstehung dargestellt werden soll.
Am 22. November 1952 hatte die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf Artikel 21.2 GG den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD eingereicht. Begründet wurde dies auf der einen Seite mit der Behauptung, die KPD würde wegen und aufgrund ihrer marxistisch-leninistischen Ideologie die Existenz der Bundesrepublik gefährden. Auf der anderen Seite kam die rein politisch geprägte Befürchtung hinzu, die KPD wolle die Wiedervereinigung Deutschlands und die «Einführung eines ganz Deutschland umfassenden, der sowjetischen Besatzungszone entsprechenden Herrschaftssystems vorbereiten».
Das Bundesverfassungsgericht folgte am 17. August 1956 dem Antrag der Bundesregierung in allen Punkten, erklärte die KPD für verfassungswidrig, verfügte ihre Auflösung, ordnete die Einziehung ihres Vermögens an und untersagte im gleichen Atemzug alle möglichen alten und neuen Ersatzorganisationen. Begründet wurde diese Entscheidung in vier Abschnitten. Im ersten konstatierten die Verfassungsrichter, die KPD strebe grundsätzlich «die Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Revolution und die Diktatur des Proletariats» an. Ob die KPD ein solches damals tatsächlich noch wollte, war zumindest fraglich. Im zweiten Abschnitt der Urteilsbegründung wurde den Mitgliedern und Anhängern der KPD eine «Untergrabung der inneren natürlichen Autorität (!) und damit (?) der Legitimation der freiheitlichen demokratischen Grundordnung» unterstellt. Wie die schon damals nahezu bedeutungslose KPD dies anstellen sollte, erwähnten die Richter vorsichtshalber nicht. Stattdessen wiesen sie darauf hin, dass die KPD immerzu die Sowjetunion preise, wo «die Diktatur des Proletariats bereits verwirklicht» sei. Eine sehr spitzfindige, aber logisch kaum haltbare Begründung! Damit nicht genug, wurde der KPD im dritten Absatz der Urteilsbegründung vorgeworfen, mit ihrer Parteinahme für die Politik der UdSSR in einem «grundsätzlichen Gegensatz zur Politik der drei Westmächte und der Bundesrepublik» zu stehen. Letzteres gelte vor allem für die Vorstellungen der KPD von einer «Wiederherstellung der Einheit Deutschlands» oder hinsichtlich ihres Eintretens für eine «ganz bestimmte Gestaltung der Wiedervereinigung». Ein von dem der Bundesregierung abweichender Kurs in der Deutschlandpolitik wurde also als Indiz für die Verfassungsfeindlichkeit der KPD gedeutet! Im vierten und letzten Abschnitt der Urteilsbegründung kam es noch schlimmer. Hier wurde der KPD eine «Verächtlichmachung der Verfassungsordnung der Bundesrepublik» unterstellt, ja vorgeworfen, der «freiheitlichen demokratischen Ordnung» nicht mit der nötigen «Achtung» begegnet zu sein.
Die erwiesenermaßen primär antikommunistisch ausgerichtete und verstandene Totalitarismusdoktrin hat über die Rechts- und Innenpolitik hinaus auch die Bildungspolitik der Bundesrepublik in einer Dimension geprägt, die sowohl unter rechtlichen wie pädagogischen Gesichtspunkten äußerst zweifelhaft zu beurteilen ist – wurde hier doch die allzeit als Theorie angesehene Totalitarismusdoktrin gerade-zu verordnet. Dies gilt vor allem für die 1962 von den Kultusministern der Länder erlassenen «Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht», in denen die Lehrer darauf verpflichtet wurden, sich im Unterricht an der schon damals umstrittenen Totalitarismustheorie zu orientieren, womit sie ihren Schülern letzten Endes die «verwerfliche Zielsetzung» und die «verbrecherischen Methoden» des «kommunistischen und des nationalsozialistischen Totalitarismus» verdeutlichen sollten. Dass es auch hier wieder vornehmlich um die Bekämpfung des Kommunismus gehen sollte, wurde im folgenden Satz klar und unmissverständlich dergestalt ausgedrückt: «Die Tatsache, dass die beiden Systeme einander bekämpft haben, darf nicht über ihre enge Verwandtschaft hinwegtäuschen.»
Dieser verordnete Antitotalitarismus (eigentlich Antikommunismus) wurde jedoch immer mehr infrage gestellt und spielte in Schule und Universität eine immer geringer werdende Rolle. Außerdem protestierten Angehörige der so genannten skeptischen und dann auch der kritischen Generation gegen antikommunistische Maßnahmen im eigenen Land und gegen den im Geist des Antikommunismus geführten Vietnamkrieg der USA. Gleichzeitig kam es im Zuge der sozialliberalen Ostpolitik zu einer «Entspannung», die wiederum Rückwirkungen auf die Innenpolitik hatte. Gemeint sind die faktische Wiederzulassung der, in DKP umbenannten, KPD und einige bildungspolitische Reformen.
Diese außen- und innenpolitische Entspannung wurde gegen heftigsten Widerstand der konservativen Politiker durchgesetzt. Konservative Politologen und andere Ideologen störten sich vor allem an der Aufgabe des Totalitarismuskonzepts und seine Ersetzung durch das des Faschismus. Der Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher wollte darin einen Verstoß gegen die Staatsideologie der Bundesrepublik sehen. In seinem Buch «Schlüsselwörter in der Geschichte» erklärte er:
«Der Totalitarismus von links und rechts war die grundlegende Erfahrung (der Bundesrepublik), und daraus folgte, dass das Selbstverständnis der zweiten deutschen Republik auf einem offenen Demokratiebegriff beruhte und sich Verfassungsinstitutionen schuf, die gegen totalitäre Tendenzen schützen sollten. (…) Vor diesem Hintergrund musste es von schwerwiegender, das Selbstverständnis der Bundesrepublik treffender Bedeutung sein, wenn der Totalitarismusbegriff in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion durch den Faschismusbegriff ersetzt wurde (…). Die Folgen sind unübersehbar. Denn hier geschah zugleich ein allmählicher Abbau jener Hemmungen und Schutzvorkehrungen der ›wehrhaften Demokratie‹, die Staat und Gesellschaft vor neuen Polarisierungen und extremen Ideologisierungen bewahren und verhindern sollten.»
Bracher hatte so Unrecht nicht. Mit der Kritik des Totalitarismuskonzepts und seiner weitgehenden Ersetzung durch das des Faschismus war die Staatsideologie der (alten) Bundesrepublik infrage gestellt worden. Dies musste und hat sich auch auf das Bild der DDR und der ihr gegenüber betriebenen Politik ausgewirkt.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus: Wolfgang Wippermann: Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich. Rotbuch Verlag, Berlin 2009. 160 Seiten, 9,90 Euro