Zur 40. Wiederkehr von Mai 68 schließen wir die Artikelreihe von Jean-Marie Chauvier über die Russische Revolution von 1917 mit einem Text über einen weniger bekannten Aspekt: die sexuelle Revolution.
«Die Sowjets kollektivieren die Frauen. Sie organisieren gemischte Schulen und gemeinsame Duschen, um die Jugend zu verderben. Sie erlauben Abtreibungen und Homosexualität, Aufmärsche von nackten Männern und Frauen. Die Familie wird systematische zerstört», so lauteten Berichte aus westeuropäischen Zeitungen in den 1920er Jahren.
Schon 1917 legte die revolutionäre sowjetische Regierung den Grundstein für eine Gesetzgebung, welche die patriarchalische Heirat, den «Brautkauf» in den muslimischen Staaten und die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen abschafft.
Die junge UdSSR (1922) ist eines der wenigen Länder der Welt, wo das Prinzip «gleiche Arbeit, gleicher Lohn» zumindest zur offiziellen Politik wird, wo die Frauen wählen und gewählt werden können (in Belgien erst 1948), wo der Schwangerschaftsabbruch straffrei ist und die Geburtenregelung gefördert wird. In Bezug auf die Emanzipation der Frauen, sagen Spezialisten, war nur Norwegen dem sowjetischen Russland voraus.
Die bolschewistische Spitzenfunktionärin Alexandra Kollontai, die fröhliche «Emanze» des Politbüros, fordert in einem an die Jugend gerichteten Text mit dem Titel «Platz dem geflügelten Eros» dazu auf, die politische Revolution durch eine sexuelle fortzusetzen - ein Programm, um die Sitten einer ganzen Bevölkerung durcheinander zu bringen!
Wie sah das Familienleben und die Sexualität der Russen vor der Revolution aus?
Seit dem 16. Jahrhundert hatten Leibeigenschaft und Sklaventum, die patriarchalische Dorfgemeinschaft und die orthodoxe Kirche die Regeln bestimmt. Im russischen Hochmittelalter erlaubten der Nomadismus und die Nicht-Unterwerfung der Bauern, die noch stark vom Heidentum geprägt waren, keine soziale Kontrolle in diesem Sinn. Das orthodoxe Christentum musste sich mächtig ins Zeug legen, um die ungezügelte Sexualität der Heidinnen und Heiden zu zähmen – im Film von Tarkowski, «Andrej Rubljow», wird darauf angespielt. Die familiäre Zelle der Bauern war das «Dvor» (Feuer oder Herd), es gab etwa 22 Millionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Eltern lebten unter demselben Dach wie ihre Kinder sowie deren Partnerinnen und Partner. Die Dorfgemeinschaft (MIR) sorgte für den sozialen Frieden, indem sie das Land regelmäßig je nach Anzahl der Familienmitglieder neu verteilte. Doch beim Ableben des Familienoberhauptes wurde sein Besitz aufgeteilt, was zur Aufsplitterung der Familien führte. Das Erbe wurde zu gleichen Teilen unter den männlichen Nachkommen verteilt. Die Gleichberechtigung bei der Erbschaft begünstigte die Aufsplitterung der Familien und führte dazu, dass sich um die Dörfer Gehöft an Gehöft reihte.
Die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 brachte den «Nomadismus» wieder in Gang. Der Mangel an bebaubarem Boden trug auch zum Auseinanderbrechen der Großfamilien und zur Landflucht bei. Das Patriarchat war jedoch noch fest im Sattel: Ein Teil der Autorität des Landherren wurde auf den «Bolschak» übertragen, das Familienoberhaupt, der über das «Dvor» und die Menschen das Sagen hatte und der Mitglied der dörflichen Versammlung (Schkod) war, mit der er über die Entscheidungsgewalt bei Familienstreitereien verfügte, bis hin zur Auslieferung von Ungehorsamen an die Polizei, das Gefängnis oder die Verbannung.
Wenn die Bauern auch keinen Sinn für Land- oder sonstiges Eigentum hatten, so «besaßen» sie auf jeden Fall ihre Frauen. «Verheiratet sein» heißt auf Russisch «byt sa mushem», wörtlich übersetzt: «seinem Mann folgen».
Die zaristische Gesetzgebung anerkannte als religiöse Institution nur die Heirat. Die Frau war zu absolutem Gehorsam verpflichtet, die Kinder konnten wegen Ungehorsams oder «wegen Unmoral und allen bekannten Lastern» durch juristische Verfahren zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Die Oktoberrevolution löst diese «Bande der Ehe» auf, nimmt den Männern das «Eigentumsrecht» über ihre Frauen und gewährt letzteren das Recht, über sich selbst zu bestimmen, zu arbeiten, wie es ihnen gefällt, ihren Namen, Wohnsitz und Nationalität frei zu wählen. Die am 19. und 20. Dezember 1917 in diesem Sinn erlassenen Dekrete werden in der ersten sowjetischen Zivilgesetzgebung 1918 verankert und ausgeweitet: Recht auf Scheidung, auch im gegenseitigen Einverständnis, Abschaffung der rechtlichen Unterschiede zwischen ehelichen und unehelichen Kindern. Heirat und Scheidungsverfahren werden extrem vereinfacht, sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe sind nicht mehr strafbar (In den Dörfern werden Ehebrecherinnen aber noch verprügelt und sogar getötet).
Das Gesetz von 1926 und die «Offensive» im Osten
Das Gesetz von 1926 legt fest:
Es gibt zwei Arten der Eheschließung, die «registrierte» und die «nicht registrierte»;
die zweite beruht auf gegenseitiger Anerkennung und wird rechtlich durch Zusammenleben, gegenseitige materielle Unterstützung und die gemeinsame Erziehung der Kinder bestätigt. Sie ist gleichwertig mit der «registrierten» Ehe. Die Eheleute wählen einen gemeinsamen Namen, entweder den des Mannes oder den der Frau. Sie behalten ihre ursprüngliche Nationalität.
Die Scheidung ist frei, im Fall der nicht registrierten Ehe bedarf sie keinerlei Formalitäten. Im Fall einer neuerlichen Heirat wird sie als «automatisch vollzogen» angesehen.
Und es kommt noch «schlimmer»: Das sowjetische Regime schafft die Gesetze ab, welche die Homosexualität bestrafen, erlaubt Schwangerschaftsabbrüche (die zur selben Zeit in Frankreich unter Strafe gestellt werden). Sie sollen in Spitälern durchgeführt werden, «therapeutisch und kostenlos» sein, als Reaktion auf die zahlreichen geheimen Aborte. Man spricht sogar von Geburtenregelung durch Empfängnisverhütung, aber dafür fehlen die technischen Mittel.
Doch die neue Gesetzgebung verändert die Bräuche nur langsam: In den 1920er Jahren gibt es in den Städten ein Viertel bis ein Drittel zivile Eheschließungen, auf dem Land jedoch immer noch neun Zehntel religiöse Heiraten, die Frauen sind weiterhin dem Patriarchat unterworfen und werden bei Zuwiderhandeln streng bestraft. In den muslimischen Regionen riskieren die Frauen, die es wagen, auch nur zur Schule zu gehen, den Tod.
Usbekische Frauen, die diese Zeit erlebt haben, erzählten uns, dass sie im Taschkent der 1920er Jahre nach strengen Traditionen lebten, Schleier trugen und nur ab und zu heimlich zu den gut bewachten Kursen oder Versammlungen der sowjetischen Institutionen gingen.
Neben dem Verbot des Schulbesuchs und der Arbeit für Frauen und ihrem häuslichen Sklavendasein gab es auch noch den Brauch des «Brautkaufs» im Kindesalter. Zu Beginn der 1920er Jahre wurden Gesetze erlassen, welche die Heirat unter 12 bis 14 Jahren verboten, später auch die unter 16 Jahren. Doch diese Gesetze waren schwer anwendbar, denn die Scharia war nach wie vor das stärkere Gesetz. Es brauchte Jahrzehnte, um die Verhaltensweisen zu verändern. Die Emanzipation der Frauen im muslimischen Osten wurde insofern behindert, weil zu Beginn die «Frauenklubs», die sie vorantreiben sollten, von Europäerinnen geleitet wurden. Nur sehr zögernd wagten es die Mohammedanerinnen, ihren Vätern und Brüdern gegenüberzutreten und Verantwortungen zu übernehmen, sie wurden dafür vorerst von ihrer gesamten Gemeinschaft geächtet.
1927 lancierten die Behörden angesichts der Langsamkeit der Veränderungen eine Großoffensive, die «Hudschum». In Taschkent, Samarkand und vielen anderen Orten rissen tausende Frauen ihre Schleier herunter und verbrannten sie. Diese Aktionen zogen brutale Reaktionen nach sich und forderten zahlreiche Opfer unter den aufständischen Frauen. Die Gerichte ihrerseits verurteilten die Angreifer, manchmal sogar zum Tod. Trotz (oder wegen) der Gewalt, welche die Offensive von 1927 begleitete, hatten muslimische Frauen in der Folge endlich Zugang zu Studium und Arbeit. Im Andenken an diese denkwürdige Wende tragen viele usbekische Frauen, die am Ende der 1920er Jahre geboren wurden, den Vornamen «Hudschum» (Offensive).
Die meisten bolschewistischen Spitzenfunktionäre (in der Mehrzahl machistische Männer) betrachten jedoch die Aufteilung der häuslichen Pflichten und die «sexuelle Revolution» nicht als Priorität. Eine der wenigen Frauen des Politbüros, Alexandra Kollontai, denkt nicht nur, sie sei eine Priorität, sondern auch, dass ohne ihre Durchführung die soziale Gleichberechtigung Schall und Rauch bleiben würde. In ihrem berühmten Buch «Platz dem geflügelten Eros» setzt sie sich für die freie Vereinigung ein, für das Recht der Frauen, über ihren Körper zu bestimmen, für die Aufhebung der Tabus, welche eine erfüllte Sexualität behindern. Die sozialen Umwälzungen haben in der Tat zu einer «sexuellen Krise» geführt, zu einer Krise des Privatlebens, einem Verlust von Anhaltspunkten und zum Chaos. «Die Individuen», schreibt Kollontai, «wechseln von einem Extrem zum anderen».
Von Puritanismus und Heuchelei gehen manche jungen Kommunisten zu Orgien über, oft interpretieren sehr «befreite» Männer die sexuelle Freiheit auf ihre eigene Art und beschimpfen Frauen, die sich ihren Wünschen nicht sofort fügen, als «kleinbürgerlich». In dieser zügellosen Atmosphäre der Kulturrevolution kommt es zu Orgien und kollektiven Vergewaltigungen, die man vor allem aus Kriegszeiten kennt. «Die Kollontai» wird dafür verantwortlich gemacht, Lenin kritisiert sie heftig: Die Sexbesessenheit missfällt ihm, und er vertraut sich einer anderen berühmten kommunistischen Feministin an, Klara Zetkin, die wesentlich gemäßigter ist als Alexandra.
Das sowjetische «Chaos»
K ein Experiment, kein Abenteuer der 1960er Jahre und des Mai '68, was nicht schon in der UdSSR der 1920er Jahre erprobt wurde: Kommunen, antiautoritäre Schulen, kollektive Küchen, um die Frauen von der Hausarbeit zu befreien (es gibt keine Haushaltsmaschinen und diese Küchen sowie die kollektiven Waschküchen bedeuten eine Revolution), Gebäude mit Privat- und Gemeinschaftsräumen, freie Psychiatrie, selbstverwaltete Gefängnisse, Erziehung im Sinn der Psychoanalyse usw.
Am 21. August 1921 eröffnet die «Freudo-Marxistin» Vera Schmidt in Moskau einen «experimentellen Kindergarten» im neuropsychologischen Institut, der nach einigen Gerüchten und Skandalen 1922 an das «Staatsinstitut für Psychoanalyse» angeschlossen wird. Straffreie Erziehung, Beobachtung und nicht Unterdrückung der kindlichen Sexualität (die damals geleugnet, beziehungsweise verteufelt wird), Förderung ihrer «Sublimierung» durch intellektuelle und kreative Aktivitäten – dies sind die Charakteristika eines Experiments, das große Entrüstung hervorruft, besonders, weil hier die Masturbation nicht verboten ist. Für Vera Schmidt und andere linke Freudianer geht es darum, selbständige, nicht unterworfene Individuen heranzubilden, «wie sie der Kommunismus erfordert».
Der Weg ist geebnet für das pädagogische Experiment von Anton Makarenko und seine Gemeinschaften zur Umerziehung straffällig gewordener Jugendlicher. Die Pädagogik von Makarenko ist nicht wirklich «libertär», aber inspiriert von Verantwortungsbewusstsein und Entfaltung der Persönlichkeit. Sie wird weltberühmt und zur offiziellen pädagogischen Doktrin der stalinistischen UdSSR, welche aber nur die formellen Aspekte der (autoriären!) Selbstverwaltung und den Kollektivgeist übernimmt, den «Makarenkismus» schlussendlich aber in eine autoritäre Praxis umwandelt.
Unter den «extravaganten» Experimenten der 1920er Jahre seien noch die Ideen und Experimente der freien Psychiatrie erwähnt, die ambulanten Behandlungen und die Reglementierung der Internierung in psychiatrische Kliniken, um Missbräuche zu verhindern.
Die Gesetzgebung von 1926 ging noch weiter als die von 1918 im Sinne der Befreiung. Die emanzipatorische Welle musste jedoch, wie wir wissen, weichen. In den 1930er Jahren werden Homosexualität und Abtreibung erneut unter Strafe gestellt (1934 bzw. 1936). Wir befinden und in der Ära des neokonservativen, puritanischen Stalinismus.
Worauf ist dieser Rückschritt zurückzuführen? Angesichts der Exzesse der «freien Liebe» und der Schwangerschaftsabbrüche unter miserablen sanitären Bedingungen kommen die Reaktionen vorerst von der Bevölkerung und werden dann vom stalinistischen Regime ausgenutzt, um «die Familie wieder zu konsolidieren». Die Unterdrückung der Frauen, die patriarchalische Mentalität setzen sich notgedrungen fort in einem Kontext von extremer Armut, Wohnungsnot, der Priorität für die Industrialisierung und natürlich der quasi militärischen Mobilmachung für den Aufbau des Landes. Die ersten Restriktionen bei Abtreibungen wurden nicht moralisch begründet, sondern durch den Platzmangel an den Kliniken.
Am Ende der 1920er Jahre haben die jungen russischen Frauen einen Vorsprung vor jenen aus dem Balkan und aus Osteuropa in Bezug auf die soziale Integration und die Bildung, die jungen Mosleminnen des Kaukasus und Zentralasiens scheinen auch besser gerüstet als ihre Schwestern in den Nachbarländern Türkei, Iran oder Afghanistan.
Eine Revolution hatte stattgefunden, allerdings nicht genau jene, von denen 1917 die libertärsten Kommunisten geträumt hatten.
Nach dem Tod Stalins 1953 zeichnet sich eine neue Welle der Liberalisierung ab, doch die UdSSR hatte bis zuletzt mit dem Mangel an Anti-Babypillen und mit löchrigen Präservativen zu kämpfen. Doch seit den 1990er Jahren mischt der Kapitalismus die Karten völlig neu: Der Sex hält Einzug im Supermarkt.