GESTERN - HEUTE - MORGEN :Der Automobilverkehr Röntgenaufnahme der industriellen Kontraproduktivität
Der folgende Text stammt von Jean Robert*, den wir anlässlich einer Konferenz in Delémont im Schweizer Jura getroffen haben. Der Titel der Konferenz hatte unsere Neugier geweckt. Seine Analyse der Geschwindigkeit des Autoverkehrs hatte mit der Kritik der Industriegesellschaft zu tun, ein Thema, das wir in dieser Zeitschrift bereits des öfteren behandelt haben.
Vor zwei oder drei Jahren eröffnete der Schweizer Bundespräsident, Moritz Leuenberger, den Autosalon von Genf mit folgenden Worten: "Liebe Automobile, liebe Automobilinnen".
Während Herr Leuenberger von dem Traum redete, der noch immer Kunden zu General Motors und Besucher in den Autosalon treibt, möchte ich über eine schon fast endemische Situation sprechen, die ich das Syndrom der erworbenen Bewegungsbehinderung nenne. Das Syndrom ist die kognitive Dissonanz zwischen einem Traum und der Wirklichkeit. Und wie es uns die auf die Studien der rain dances spezialisierten Anthropologen lehren, erfordert die Verdrängung der Realität mythopetische Rituale, das heißt alltägliche Handlungen, deren steigende Kosten die Funktion haben, die wachsende Kontraproduktivität zu verbergen.
Traum, Realität, Ritual und Mythos
Der Traum: Schnelligkeit, Verflüssigung der Distanzen, eine für alle zugängliche Quasi-Allgegenwärtigkeit.
Die Realität: Immer länger werdende Zeitspannen, die täglich aufgewendet werden, um von Hier nach Woanders zu flüchten, und der immer größer werdende Anteil an diesen Zeitspannen, der in Staus verbracht wird.
Das Ritual: Gewisse Ethnologen der industriellen Modernität bezeichnen es als alternierende Migration, andere als Pendeleffekt, noch andere sagen dazu commuting .
Der Mythos: Die Zeit der Chronometer chronos kann gewonnen werden. Zeit gewinnen heißt per Definition Kilometer fressen. Kilometer fressen heißt demzufolge Zeit gewinnen. Zeit ist Geld. Zeit gewinnen - das heißt Kilometer fressen - ist Geld gewinnen. Zeit und Distanzen sind messbar, anders gesagt gleichwertig: Du wohnst eine Stunde von deinem Arbeitsplatz entfernt, du wohnst soundsoviel Kilometer von deinem Arbeitsplatz entfernt. Sag mir, mit welcher Geschwindigkeit du dich zwischen den beiden Orten fortbewegst und ich sage dir, wer du bist. Da, derselben Logik zufolge, Distanz und Zeit messbar sind, scheint das Verhältnis zwischen einer Entfernung und einer Zeitspanne ein vernünftiger Begriff zu sein.
Es sei dennoch darauf hingewiesen, dass nach Aristoteles zwei Größen nur dann in ein Verhältnis miteinander gebracht werden können, wenn sie messbar sind. Für ihn waren Entfernung und Zeit jedoch nicht kommensurabel, d.h. keine mit dem gleichen Maß messbare Größen. Das Verhältnis zwischen einer Distanz und einer Zeitspanne heißt Geschwindigkeit. Galilei, der sie velocitas nannte, behielt sich diesen Begriff ausschließlich für seine Experimente auf geneigten Flächen vor. Bei Newton ist dx/dt bereits der Prototyp einer Grenze, zu der eine Größe tendiert, ohne sie jemals zu erreichen.
Wer heute Geschwindigkeit sagt, schlimmer noch, meine Geschwindigkeit, bestätigt den modernen Mythos, dem zufolge die Gesellschaft ein Laboratorium für soziale Physik ist.
Diese Einleitung war ein notwendiges caveat *. Ich persönlich glaube, dass schon das Konzept an sich der Geschwindigkeit, wenn es aus dem Laboratorium kommt, kontraproduktiv ist. Ich werde versuchen, einen Traum zu analysieren: Die Geschwindigkeit; eine Realität, die dazu im Widerspruch steht: die Langsamkeit der motorisierten Verkehrsmittel; ein Ritual, das diese Realität verschleiern soll: das Pendlertum und schließlich einen durch dieses Ritual hervorgebrachten Mythos: "Durch Geschwindigkeit kann man Zeit gewinnen, Zeit kann gewonnen werden, Geschwindigkeit ist ein lebensnotwendiger Faktor der Wirtschaft".
Sie könnten den Eindruck gewinnen, dass ich das Konzept der Geschwindigkeit allzu wörtlich nehme. Es sei hiermit klargestellt, dass ich kein Glaubensgenosse dieser Religion bin. Der Augenblick, es zu sagen, wird bald kommen: Sobald der Mythos der Geschwindigkeit endgültig zusammenbricht, werden einige die Gesellschaft auf der Grundlage einer akzeptierten Langsamkeit neu organisieren wollen. Die Stunde der slobbies , der "slow but better working people " wird schlagen. Nicht mehr die Geschwindigkeit, sondern das Prinzip "just in time" wird Ihren langsamen, mechanischen Tanz bestimmen. Aber Sie bleiben Gefangene der Kilometer/Stunde: Das ehemalige Symbol der Geschwindigkeit wird zum Regulator der Langsamkeit.
Ivan Illich schreibt: "Hier stehe ich mit meiner Überzeugung. Nennen Sie sie Intuition oder gar die fruchtbare Hypothese eines Außenseiters: Das Zeitalter der Geschwindigkeit hatte einen Anfang, und wir sprechen von seiner Geschichte, weil wir die Zeugen seines nahenden Endes sind 1*".
"Der gesunde Menschenverstand sagt, dass der Begriff "Distanz in Bezug auf eine Zeitspanne" oder allgemeiner "Vorgang in Korrelation mit einer Zeitspanne" fester Bestandteil jeder Kultur ist. Die Aufgabe unseres Trios ist, diesen so genannten gesunden Menschenverstand aufzurütteln 2."* Mein Vorschlag ist bescheidener: Ein Gespräch über einen Mythos zum Zeitpunkt, da sein Untergang bevorsteht.
Eine Form der Ausbeutung der Arbeit anderer
Sich schneller fortbewegen als es die Füße erlauben, heißt immer, auf Dienstleistungen anderer zurückgreifen, es heißt immer, die Zeit mobiler oder immobiler Arbeiter konsumieren.
Ich stelle die Frage: Wenn alle in einer Gesellschaft zurückgelegten Kilometer dividiert würden durch alle benötigten Transport- und Arbeitsstunden, wäre dann diese allgemeine gesellschaftliche Geschwindigkeit vergleichbar mit der des Radfahrers oder des Fußgängers?
Der Mensch kann mit seinen Beinen vier, fünf oder sechs Kilometer in der Stunde zurücklegen. Mit dem Flugzeug, auf der Autobahn oder mit dem Zug verbraucht jener, der sich den Luxus der Geschwindigkeit leistet, immer menschliche Arbeit. Je schneller er sich fortbewegt, desto mehr Arbeit konsumiert er. Der französische Autofahrer zum Beispiel kapitalisiert unter seinem Sitz Arbeitsstunden in Sochaux oder Billancourt, bei den Erdölbohrungen in Kuwait, bei der Kompanie Esso, bei der Tankstelle, ohne die Arbeitsstunden zu zählen, die er den Steuerbehörden, den Richtern, den Chirurgen oder den Verkehrspolizisten beschert. Die motorisierten Transporte erlauben es, die Zeit, die man mit Gehen verbracht hätte, durch die Arbeit anderer Menschen zu ersetzen. Die Kraft der Motoren verbirgt, dass es immer ungefähr eine Stunde Arbeit braucht, um einen Menschen sechs Kilometer weit zu transportieren, egal, mit welcher Geschwindigkeit. Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Geldaufwand und Zeit, eine Art Zeitkostenvoranschlag, könnten diese Zahl abändern, aber sie könnten die Größenordnung nicht modifizieren.
Tatsächlich sind z.B. zwischen 15 und 20 Prozent der französischen Arbeiter in der Transportindustrie beschäftigt.
Die durch die Transporte verbrauchte "soziale Zeit" ist dreierlei Art: entlohnte Arbeit der im Transportwesen beschäftigten Arbeiter, nicht entlohnte Zeit der Transportierten und nicht entlohnte Zeit der Nicht-Transportierten aufgrund der Transporte anderer.
Die durch die Transporte verbrauchte Zeit ist nicht nur die Zeit, welche die Verbraucher in den Fahrzeugen verbringen. Es ist auch die Zeit, die sie damit zubringen, sich zu den Fahrzeugen zu begeben, die Zeit der Nicht-Transportierten aufgewendet für überflüssige Reisen oder Warten.
Die Verbraucher der "leistungsfähigsten" Transporte zahlen niemals die Gesamtheit der Kosten, die sich verursachen. Sie bürden sie unschuldigen Drittpersonen auf. Flugzeuge, Schnellzüge und Autobahnen exportieren ungedeckte Kosten in die Gesellschaft. Die Wirtschaftsfachleute sprechen von externen Kosten und von der Unmöglichkeit, sie zu "internalisieren".
Beschleunigung der einen - Verlangsamung der anderen
Die motorisierten Transporte sind ein Spiel, bei dem Verbraucher ohne gesellschaftliches Gewicht stehen bleiben, um den Verbrauchern mit gesellschaftlichem Gewicht zuzusehen. Autobahnen sind Schnitte/Nähte: Sie verbinden in der Längsrichtung und schneiden transversal, indem sie die einen beschleunigen und die anderen verlangsamen. Der Autofahrer, der frühmorgens in Paris zum Flugplatz rast, um seinen Termin in London zu Mittag nicht zu verpassen, schneidet der Hausfrau von Roissy, die rechtzeitig nach Hause kommen will, um das Essen zuzubereiten, die Straße ab. Motorisierte Transporte transferieren Privilegien von den Armen zu den Reichen.
Studien über Transporte behaupten nicht, dass durch letztere Zeit gewonnen wird oder soziale Zeit eingespart wird. Sie zeigen auf, wie durch sie "hochwertige" Zeit gewonnen wird, wie sie den Wert der totalen Zeit einer Gesellschaft maximieren. Tatsächlich wird durch die Transporte soziale Zeit nicht gewonnen, sondern im Gegenteil immer mehr verbraucht. Instrument dieser Diskriminierung ist ein wirtschaftliches Gebilde, das es erlaubt, jedem einen Zeitwert zuzumessen, der seiner sozioprofessionellen Kategorie entspricht. Der Wert Ihrer Zeit wäre etwa Ihr Stundenlohn, relativisiert durch Kriterien wie Komfort oder Nicht-Komfort. Dieser zugemessene Zeitwert erlaubt es den Fachleuten zu bestimmen, wer beschleunigt und wer verlangsamt werden soll. Die Verlangsamten sollen dann einsehen, dass die Beschleunigten produktiver sind – der Beweis: sie werden besser bezahlt – und daher mehr zum globalen Kuchen beitragen als sie.
Das Dilemma des Gefangenen
Unter dem Strich sind die so genannten Expresstransporte ein negatives Spiel. Sie ermöglichen den einen, schnell zu sein und zwingen der Mehrheit Zeitverluste auf. Die Geschwindigkeit ist kontraproduktiv.
Das technische oder "klinische" Niveau der Kontraproduktivität der Transporte ist der Stau. Es ist ein Verhältnis zwischen zweierlei outputs des industriellen Produktionssystems, zum Beispiel zwischen dem letzten und dem vorletzten produzierten Kilometer/Passagier, oder zwischen der von den Benützern einer verstopften Straße verlorenen Zeit und der Zeit, die ein zusätzliches Fahrzeug darauf verbringt.
Wenn die Fahrgeschwindigkeit 8km/h beträgt, so zwingt jedes zusätzliche Fahrzeug allen anderen einen globalen Zeitverlust auf, der zehnmal höher ist als die Zeit, die es selbst auf der Straße verbringt 3.
Unter den Methoden, mittels derer Staus aufgelockert werden sollen, sei hingewiesen auf das System der Tangenten, die ein Stadtzentrum wie ein Ring umgeben, von der aus eine Reihe von "Radialen" den inneren Teil wie einen Kuchen in Portionen schneiden. So hat das französische Transportministerium in Paris solche "Radiale" eingeweiht, worauf einige Privilegierte mit 30 km/h "dahinrasen" können. Aber diese Geschwindigkeitszunahme hat als Preis die Verlängerung der Fahrtroute und eine Verlangsamung des Verkehrs in der ganzen Stadt. In den Städten, in denen dieses System zur Anwendung kommt, konstatierte Reuben Smeed eine Abnahme des Zentrumsverkehrs von 50 bis 70 Prozent bei einer Zunahme von 20 bis 30 Prozent des Verkehrs in der ganzen Stadt 4.
Überangebot heißt Qualitätsverlust eines Produkts bei Steigerung der Quantität, zum Beispiel der Verlust an sozialem Wert einer Doktorarbeit, sobald die Zahl der Doktoren wächst. Überangebot im Verkehrswesen, sprich Stau, ist der Verlust von "Fahrtwert" jeder in einem Fahrzeug zugebrachten Stunde. Die individuelle Flucht vor Stau auf provisorisch "schnellere" Straßen und die Hierarchisierung der Straßen tragen dann zur Verringerung des "Fahrtwerts" jedes zurückgelegten Kilometers bei. "Das Ergebnis der von den Verbrauchern getroffenen Wahl ist eine Reihe von Schwankungen rund um eine Durchschnittsgeschwindigkeit, die im Stadtzentrum von London in Stoßzeiten etwa 16 km/h und während des restlichen Arbeitstags etwa 18 km/h beträgt" 5.
Die Theorie über Verkehrsstaus kann als Illustration einer französischen Wirtschaftstheorie angesehen werden, die "Theorie der Güter mit variabler Qualität" genannt wird, sous entendu mit ihrer Quantität. Sie ist auch bekannt unter dem Namen "Überangebotstheorie". In unserem Fall bedeutet Überangebot Stau. Das Überangebot seines eigenen Produkts innerhalb eines Systems ist der "Qualitätsverlust" dieses Produkts, wenn die globale Menge wächst. So verliert die Dienstleistung einer Autobahn an Qualität, wenn die Möglichkeit aller Fahrer steigt, die anderen zu verlangsamen.
Doch Reuben Smeed hat auch ein den Verkehrsstaus eigenes Paradoxon aufgedeckt.
In dem Augenblick, in dem ein Transportsystem an seinem maximalen Stauniveau ankommt, d.h. am totalen Stillstand, ist seine Produktivität am größten. Wenn man das output eines Transportnetzes in km-Passagier pro Stunde oder pro Tag misst – und wie könnte ein Technokrat das anders messen? – kann das Kompositionsgesetz, das die Geschwindigkeit (G) jedes einzelnen mit der Produktivität des Gesamten in Verbindung bringt, folgendermaßen zusammengefasst werden:
Umsatz (%) G (km/h)
25 32
50 26
75 18
93 9,6
98 5,1
Das Wort "Umsatz" zeigt, dass der Verkehr für die Transportingenieure ein Strom ist, der, statt in Litern/Stunde in Kilometer-Passagier/Stunde gemessen wird. Sie belehren uns, dass ein Verkehrsnetz bei einer Geschwindigkeit, die der des Fußgängers entspricht, am meisten km-Passagier/h produziert. Bei dieser Geschwindigkeit ist das Straßensystem in einem Zustand struktureller Labilität: Die Produktivität kann unmittelbar vom Maximum zu Null übergehen.
Die Geschwindigkeitsanzeiger
Sehen wir uns an, welche Geschwindigkeitsanzeiger uns die Studien über das Transportwesen liefern.
Die technische Geschwindigkeit ist jene, für die ein Transportmittel konstruiert wurde. Dieser Indikator hat für uns wenig Sinn.
Die Fahrtgeschwindigkeit auf der Straße: Die Geschwindigkeit der Ströme auf den Straßen entspricht dem von Reuben Smeed untersuchten Gesetz der Komposition. Sie ist nahe der Geschwindigkeit des Fußgängers bei maximaler Produktivität des Netzes. Dem Service d’Etudes Techniques des Routes et Autoroutes SETRA (Technischer Studiendienst der Straßen und Autobahnen) zufolge, liegt sie in den Großstädten etwa bei 15 km/h für alle Fahrzeuge und leicht darunter in den kleinen Städten.
Allgemein gesehen geht die Geschwindigkeit auf den Straßen zurück. Einer Studie des SETRA zufolge verringerte sich in den letzten Jahren die Durchschnittsgeschwindigkeit der kollektiven Transportmittel um 18 Prozent in den Städten mit 100.000 bis 200.000 Einwohnern und um 10,5 Prozent in den Städten mit über 200.000 Einwohnern.
Vor 20 Jahren sagte Jean Orselli: Die Pariser Transportgesellschaft RATP schafft jedes Jahr 50 neue Autobusse an, nur um der wachsenden Langsamkeit der Rotation ihrer Fahrzeuge entgegenzuwirken. Was die Durchschnittsgeschwindigkeit pro Tag der Pariser Automobile betrifft, so ist sie gestiegen: 19,5 km/h 1953 gegen 24 km/h 1972 6.
Die Tür-zu-Tür-Geschwindigkeit ist die Strecke zwischen Abfahrts- und Ankunftsort dividiert durch die Zeit zwischen Abfahrt und Ankunft. Sie beinhaltet zu Fuß zurückgelegte Strecken und modal splits . Die Tür-zu-Tür-Geschwindigkeit in Paris beträgt durchschnittlich 10 km/h für die öffentlichen Transportmittel und 14,5 km/h für private Fahrzeuge. Allgemein gesehen steigt sie bei den privaten Fahrzeugen und sinkt bei den öffentlichen Transporten.
In den kleinen Städten liegt die durchschnittliche Tür-zu-Tür-Geschwindigkeit weit unter der der Großstädte: Eine Untersuchung der SETRA über Städte mit über 100.000 Einwohnern ergibt: 5,5 km/h für die öffentlichen Transporte und 9,5 km/h im Durchschnitt für Privatfahrzeuge 7.
Die verallgemeinerte Geschwindigkeit ist der Quotient der Kilometer/Jahr eines Fahrers durch die Summe der im Fahrzeug vebrachten Stunden, oder bei der Arbeit, um das Geld zu verdienen, um es bezahlen zu können. Sie konstruiert sich ausgehend von einer "verallgemeinerten Zeit", dem Kehrwert des "Zeitwertes". Für die mittleren sozioprofessionellen Kategorien in Frankreich beträgt sie ca. 10 km/h.
Ein typischer, motorisierter Vorarbeiter verbringt zwischen einem Viertel und einem Drittel seines Arbeitstages damit, Geld zu verdienen, um die Kosten für sein Auto zu decken. Kein Wirtschaftsfachmann war bisher in der Lage, eine allgemeine gesellschaftliche Geschwindigkeit auszurechnen, die nicht nur die Zeit einbezieht, die sein Auto ihn selbst kostet, sondern auch die Zeitverluste, die unschuldigen Drittpersonen aufgezwungen werden.
Doch die technische Kontraproduktivität oder Stau ist nur der am besten sichtbare Aspekt der Kontraproduktivität der Transporte. Wir haben gesehen, dass es sich um ein Verhältnis von Produkt zu Produkt, von output zu output handelt. Edmond Malinvaud, Vertreter der französischen Théorie de l’encombrement (des "Überangebots"), hat zugegeben, dass sie Unzulänglichkeiten aufweist. Er zitiert die Arbeit von "zwei jungen französischen Wirtschaftstheoretikern". Diese zwei jungen Leute hätten ein Konzept erarbeitet, mit Hilfe dessen man nicht den Qualitätsverlust der Waren oder Dienstleistungen aufgrund der wachsenden Quantität evaluieren kann, sondern die Zerstörung von Fähigkeiten wie gehen, lernen, heilen, lieben, wenn die Menge der Dienstleistungen zunimmt, die diese Fähigkeiten ersetzen sollen.
Was dieser berühmte Wirtschaftswissenschaftler uns zuschrieb, ist in Wirklichkeit der Beitrag von Ivan Illich.
In "Die Nemesis der Medizin" 8 unterscheidet Illich drei Ebenen von negativer Synergie oder Kontraproduktivität zwischen einer autonomen Aktivität und ihrer heteronomen Homologen:
die technische oder klinische Kontraproduktivität
die strukturelle Kontraproduktivität
die symbolische Kontraproduktivität
Die strukturelle Kontraproduktivität ist ein Verhältnis zwischen Wesen, die sich autonom fortbewegen können, und den heteronomen Ersatz-Fortbewegunsmitteln. Hier tritt das Syndrom der erworbenen Bewegungsbehinderung in Erscheinung, von dem ich zu Beginn sprach. Wenn gewisse dimensionale Grenzen überschritten sind, so zerstört das Anwachsen der Transporte unwiederbringlich autonome Fortbewegungskapazitäten. Diese Verluste können nicht kompensiert werden, und hier irren sich alle Wirtschftswissenschaftler.
Die dritte Ebene der symbolischen oder kulturellen Kontraproduktivität ist der Tod der Phantasie und, damit einhergehend, der Politik: die Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass es anders sein könnte.
Das ist das Gefangensein in einem globalen Absurdistan von ex-Bürgern mit einer Phantasie, die ebenso gelähmt ist, wie ihre Füße.
Jean Robert
Secrétariat d’Etat aux Transports, Synthèse d’Enquêtes effectuées dans les agglomérations de province à la fin des années 1960
Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin: Von den Grenzen des Gesundheitswesens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1977
Illich, Ivan: "Prisoners of Speed", in Das Geschenk der conspiratio. Schriften Bremen 1997-1999, Bremen: Kreftingstrasse 16, 1999, S. 88-91.
Ibid. S. 88
Smeed, Reuben (S,R): "Traffic Studies and Urban Congestion". Journal of Transport Economics and Policy", vol. II, no 1, Jan. 1968, S. 31. (S. 16)
S,R, J., loc. cit. S. 22, 23
S,R, J., loc. cit. S. 19
Orselli, Jean, "Transports individuels et collectifs en région parisienne". Paris: Berger-Levraut, 19
*Jean Robert war ab 1974 einer der engsten Mitarbeiter von Ivan Illich. Er leitete Seminare im CIDOC, einem von Illich gegründeten Institut in Cuernavaca (Mexiko). Heute ist er Professor für Städteplanung an der Autonomen Universität des Bundesstaates Morelos und schrieb kürzlich einen Artikel über seine pädagogischen "Fehlschläge". Seinen eigenen Worten zufolge "beteiligen sich meine ehemaligen Schüler, meine Kollegen derzeit an der Zerstörung unseres städtischen Raums, seinem Verkauf an den Meistbietenden, an der Zerstörung traditioneller Stadtviertel." Er ist Mitbegründer des "Frente Civico", einer Bewegung, die sich gegen solche Projekte auflehnt.