John Holloway spricht von unserer sich schnell bewegenden, schwer fassbaren und vielstimmigen Revolte gegen die abstrakte Arbeit, welche die Herrschaft des Kapitalismus untermauert.
1968? Warum sollten wir darüber sprechen? Es passieren so viele andere, wichtigere Dinge. Sprechen wir von Oaxaca und Chiapas und der Gefahr eines Bürgerkrieges in Mexiko. Sprechen wir vom Irakkrieg und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Ist dies wirklich der richtige Zeitpunkt für alte Männer, sich zurückzulehnen und in Erinnerungen zu schwelgen?
Vielleicht müssen wir trotz all diesen wichtigeren Dingen davon sprechen, weil wir uns verloren fühlen und nicht wissen, welche Richtung wir einschlagen sollen. Dies nicht, weil es nur einen Weg gibt, sondern weil viele verschiedene Pfade weiterführen können. Vielleicht hat 1968 etwas damit zu tun, dass wir uns verloren fühlen und vielleicht hat es auch mit dem Begehen neuer Pfade zu tun. Deshalb lasst uns über 1968 sprechen.
1968 stieß eine Tür für Veränderungen in der Welt auf, für die Veränderung der Spielregeln im antikapitalistischen Konflikt, eine Veränderung der Bedeutung der antikapitalistischen Revolution und dadurch auch eine Veränderung der Bedeutung des Begriffs Hoffnung. Dies versuchen wir noch immer zu begreifen. Deshalb sage ich, dass 1968 dazu beiträgt, dass wir uns ein wenig verloren fühlen und gleichzeitig der Schlüssel zu einer neuen Orientierung ist.
1968 war eine Explosion, ein Ausbruch, und der Knall hallt noch immer nach, manchmal schwer zu unterscheiden von neueren Knallen, die den Klang von 1968 aufnehmen – der wichtigste vielleicht 1994 beim Beginn der zapatistischen Bewegung. Wenn ich von 1968 spreche, dann nicht mit geschichtlicher Präzision: Was mich interessiert, ist der Ausbruch, und wie wir durch eine bewusste Auseinandersetzung mit solch einem Ausbruch Möglichkeiten erkennen, über die Katastrophe des Kapitalismus hinwegzukommen.
1968 war die Explosion eines sozialen Kräfteverhältnisses, einer Form von sozialem Konflikt. Dieser Zustand wird manchmal mit Fordismus bezeichnet. Der Begriff hat den großen Vorteil, dass er uns direkt zur Kernfrage führt, nämlich wie unsere täglichen Aktivitäten organisiert sind. Er bezieht sich auf eine Welt, in der die Massenproduktion in den Fabriken mit der Förderung von Massenkonsum einhergeht, indem relativ hohes Einkommen und ein so genannter Wohlfahrtsstaat miteinander kombiniert werden. Hauptakteure in dieser Entwicklung waren die Gewerkschaften als treibende Kraft im ganzen System der Lohnverhandlungen und der Staat, der scheinbar in der Lage war, die Wirtschaft zu regulieren und die Grundlagen sozialer Wohlfahrt sicherzustellen. In einer solchen Gesellschaft ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Streben nach sozialer Veränderung auf den Staat bezogen bleibt und es das Ziel ist, die staatliche Macht zu übernehmen, sei es mittels Wahlen oder auf andere Weise. Möglicher-weise wäre es passender, bei der hier vorliegenden Form der Klassenverhältnisse nicht nur von Fordismus zu sprechen, sondern von Fordismus-Keynesian-ismus-Leninismus.
Abstrakte Arbeit als Herz-stück des Kapitalismus
Ich denke, dass die Problematik viel tiefer liegt. Es besteht die Gefahr, dass wir uns zu sehr darauf beschränken, darin eine Krise des Fordismus (oder eben Fordismus- Keynesianismus-Leninismus) wahrzunehmen. Wir sind versucht, diesen als eine Abfolge von Regulationsmechanismen zu sehen, in der einer - etwa Post-Fordismus, Weltreich oder sonst etwas - den vorhergehenden verdrängt. Kapitalismus wird als eine Reihe von Restrukturierungen, Synthesen oder Schlussfolgerungen gesehen, wohingegen es gar nicht unser Interesse sein kann, eine Geschichte des Kapitalismus zu schreiben, sondern einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden. Man muss über das Konzept des Fordismus hinaus gehen. Fordismus war eine äußerst weit entwickelte Form der entfremdeten oder abstrakten Arbeit. Was in diesen Jahren am heftigsten in Frage gestellt wurde, ist die entfremdete Arbeit, also das Herzstück des Kapitalismus.
Abstrakte Arbeit – ich benutze hier den marxschen Begriff aus dem «Kapital» weil er mir umfassender erscheint – ist Arbeit, die Mehrwert und noch höheren Mehrwert und somit Kapital schafft. Marx stellt dieser die nützliche oder konkrete Arbeit entgegen, Tätigkeiten die nötig sind für das Weiterexistieren einer jeden Gesellschaft. Abstrakte Arbeit wird als von ihrer eigentlichen Charakteristik losgelöst wahrgenommen, sie wird mit irgendeiner anderen Arbeit gleichgesetzt und diese Gleichsetzung erfolgt durch Tausch oder dessen administrative Platzhalter. Diese Loslösung ist nicht nur mentaler Natur, sondern geschieht auch in der Wirklichkeit: Die Tatsache, dass Dinge für den Tausch produziert werden, fällt auf den Produktionsprozess selbst zurück und führt dazu, dass in diesem Prozess nur wichtig ist, gesellschaftlich notwendige Arbeit zu verrichten und möglichst wirtschaftlich Güter zu produzieren, die sich verkaufen lassen. Abstrakte Arbeit ist Arbeit ohne jede Besonderheit, ohne Sinn. Abstrakte Arbeit schafft die Kapitalgesellschaft, eine Gesellschaft deren einziges Ziel es ist, abstrakte Arbeit anzuhäufen, das ständige Streben nach Profit.
Unsere Gesellschaft ist aus abstrakter Arbeit gestrickt. Der ständige Prozess des Austauschs verwickelt die verschiedenen menschlichen Aktivitäten ineinander, indem er uns immer und immer wieder zuraunt: «Es kommt nicht darauf an, was du gerne machst, wie viel Liebe und Sorgfalt du da hinein steckst, was zählt ist, ob es sich verkauft, was zählt ist, wie viel Geld du dafür bekommst.» So sind unsere verschiedenen Aktivitäten miteinander verschlungen, so ist die kapitalistische Gesellschaft aufgebaut.
Diese Verschlingungen gehen noch weiter: Weil unsere Beziehungen auf dem Austausch von Dingen basieren, kommt es zu einer «Verdinglichung» oder Versachlichung oder Fetischisierung von sozialen Beziehungen. Auf dieselbe Weise, wie die Dinge, die wir schaffen, sich von uns entfremden und, ihren Ursprung verleugnend, sich gegen uns wenden, so bekommen auch alle Aspekte unserer Beziehungen zu anderen Menschen einen gegenständlichen Charakter. Geld ist nicht eine Beziehung zwischen verschiedenen Erzeugern, sondern wird zum Gegenstand. Der Staat ist kein Mittel, durch welches wir unsere gemeinsamen Angelegenheiten organisieren, sondern wird zum Gegenstand. Sex wird zum Gegenstand anstelle der Vielfalt und der verschiedenen Weisen, wie Menschen sich körperlich berühren. Die Natur wird zu einem Gegenstand, der dem Verdienst dient, und ist nicht mehr das komplexe Zusammenspiel von verschiedenen Lebensformen, die sich diesen Planeten teilen. Zeit wird zum Gegenstand, Uhrzeit, ein Zeitmaß von außerhalb, sagt uns, dass morgen dasselbe wie heute sein wird, der Rhythmus unseres Lebens zählt nicht mehr mit seinen intensiveren und ruhigeren Phasen. Und so weiter.
Bei der Ausführung von abstrakter Arbeit weben wir unablässig an einer Welt, die uns so schnell zu Grunde richtet. Jeder Strang dieses Gewebes verstärkt dessen andere Partien und macht es als Ganzes solider. In Zentrum steht unsere Tätigkeit als ab-strakte Arbeit, aber die leere, inhaltslose Abstraktion unserer Arbeit wird aufrechterhalten durch eine ganze Struktur der Ab-straktion oder Entfremdung, die wir selbst erschaffen haben: der Staat, die Idee und Praxis der zweigestaltigen Sexualität, die zum Objekt gemachte Natur, das Erleben der Zeit als Uhrzeit, die Wahrnehmung von Raum als mit Grenzen umgebenes Gebiet, und so weiter. All diese Dimensionen ab-strakter Sinnlosigkeit werden geschaffen und aufrechterhalten durch die abstrakte Sinnlosigkeit unserer täglichen Beschäftigung, die den Kern dafür bildet. Dieses komplexe Gewebe platzt 1968 mit lautem Knall.
Die Kehrseite der abstrakten Arbeit
Aber wie, welcher Druck, welche Kraft ließ dies alles platzen? Es war nicht die Arbeiterklasse, zumindest nicht im traditionellen Sinn. Fabrikarbeiter spielten zwar, vor allem in Frankreich, eine wichtige Rolle, aber sie spielten keine zentrale Rolle in dieser Explosion. Diese Rolle kann eigentlich keiner klar umrissenen Gruppe zugeschrieben werden. Es ist eher die Form des Zusammenlebens, geprägt durch abstrakte Arbeit, die explodiert. Die Kraft, die freigesetzt wurde, ging nicht von einer gesellschaftlichen Gruppe aus, sondern von der Kehrseite der abstrakten Arbeit, der Widersprüchlichkeit der abstrakten Arbeit: Woran abstrakte Arbeit festhält, ohne etwas zu enthalten, was sie zurückdrängt, ohne es wirklich zu verdrängen. Das war, was in die Luft ging.
Was ist die Kehrseite der abstrakten Arbeit? Hier scheint der Wortschatz nicht auszureichen. Dies ist kein Zufall, denn was zurückgedrängt wird, bleibt eher unsichtbar, ohne Stimme, ohne Namen. Wir können es Anti-Entfremdung oder Anti-Abstraktion nennen. In seinem Manuskript von 1844 umschreibt Marx den Begriff Anti-Entfremdung mit dem Begriff «bewusste Lebenstätigkeit» und im Kapital stellt er «abstrakte Arbeit» in Kontrast zu «konkret nützlicher Arbeit». Diese Begriffe sind nicht ganz befriedigend. Dies unter anderem, weil nicht in allen Gesellschaften ein klarer Unterschied zwischen Arbeit und anderen Lebensaktivitäten gemacht wird. Deswegen möchte ich die Kehrseite der abstrakten Arbeit eher mit Tätigkeit als Anti-Enfremdung beschreiben, denn worum es geht, ist in erster Linie die Art und Weise, wie menschliche Tätigkeit organisiert wird.
Kapitalismus basiert auf abstrakter Arbeit, doch gibt es stets eine Kehrseite, einen anderen Aspekt von Tätigkeit, welcher der ab-strakten Arbeit völlig unter-geordnet zu sein scheint, es jedoch nicht ist und niemals sein kann. Ab-strakte Arbeit ist die Tätigkeit, die Kapital schafft und die Dominanz des Kapitalismus festigt, aber da gibt es immer eine andere Seite, Tätigkeiten, die ihre Besonderheit beibehalten haben oder zumindest versuchen, an dieser festzuhalten. Dies ergibt einen Sinn und einen Ansatz von Selbstbestimmung in der Arbeit. Marx verweist ganz zu Beginn des «Kapital» auf die Beziehung zwischen abstrakter und konkret nützlicher Arbeit als zentralen Ausgangspunkt für das Verständnis der politischen Ökonomie und folglich des Kapitalismus. Ein Satz, der in der gesamten marxistischen Tradition fast gänzlich unbekannt geblieben ist.
John Holloway *
*John Holloway (geb. 1947 in Dublin) ist Politikwissenschaftler. Er lehrt seit 1993 an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (BUAP) in Puebla/Mexiko.
Eines seiner Bücher: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Münster 2002.
Fortsetzung in der nächsten Nummer