Vielleicht erinnern Sie sich, dass das Europäische BürgerInnenforum im November 1992, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, zusammen mit dem Bürgermeister von Delémont, Jacques Stadelmann, "Gemeinden Gemeinsam Schweiz" (GGS) gründete. Die Grundidee bestand darin, Partnerschaften zwischen Gemeinden in der Schweiz und in ex-Jugoslawien aufzubauen.
Die Gemeinden, die für Partnerschaften ausgesucht wurden, waren solche, die nicht direkt in Kriegshandlungen einbezogen waren, die viele Flüchtlinge aufzunehmen hatten oder in denen Minderheiten lebten, wie beispielsweise in der Region Sandschak in Serbien, wo 90 Prozent Moslems leben. Heute gibt es 20 Partnerschaften, davon sieben in Kroatien, sieben in Montenegro, zwei in Makedonien und zwei im Kosovo. GGS feierte letztes Jahr sein zehnjähriges Bestehen.
Auch wenn die offenen Kriegshandlungen im Balkan zu Ende sind, bleiben die Spannungen sehr groß. Zur Zeit ist beispielsweise eine Eskalation der Gewalt in Makedonien zu erwarten. Während der Konflikte in Makedonien vor zwei Jahren sah sich das aargauische Regionalkomitee mit großen Schwierigkeiten in ihrer Partnergemeinde Tetovo konfrontiert, wo der Bürgermeister ein Albaner war. Andere makedonische Gemeinden wie Krusevo waren sehr stolz darauf, dass es ihnen gelungen war, durch die rasche Schaffung von Krisenkomitees, in denen Makedonier und Albaner vertreten waren, die Situation zu entschärfen.
Es sind gerade solche Haltungen, die GGS mit seinen Partnerschaften zu fördern versucht. Dazu finden verschiedenste Formen der Zusammenarbeit und des Austausches statt: Sommerlager für Jugendliche und Kinder, Austauschprogramme von Sportgruppen, Internetkaffees, Lokalradios, logistische Hilfe für Schulen und Spitäler, Unterstützung von Flüchtlingen, Seminare zu verschiedensten Themen, Gesundheit und sogar Unternehmensgründung (in deren Folge mehrere Betriebe gegründet wurden).
Selbstverständlich ist eines der Kriterien die Präsenz mehrerer Ethnien. Es finden regelmäßig Treffen statt zwischen Schweizer und jugoslawischen Gemeindebehörden, um direkte Kontakte zu knüpfen. Im April 2002 organisierte GGS in Ohrid in Makedonien einen Kongress über die Fragen der Gemeindeautonomie; 150 Leute nahmen daran teil, davon 60 Bürgermeister aus dem Balkan. Das große Interesse war nicht erstaunlich in Anbetracht der mangelnden Gemeindefreiheiten, sei es im finanziellen oder im politischen Bereich. Ein anderes Thema, das sich bei diesem Treffen herauskristallisierte, war nebst der Frage der Medienfreiheit das der massiven Abwanderung der Jugendlichen. Deshalb wurde für diesen Herbst ein Folgetreffen zu diesem Thema organisiert, 50 zumeist junge Menschen aus Ost und West nahmen daran teil.
GGS ist darum bemüht, auch in Bosnien Partnerschaften aufzubauen. Daher wurde dieses Treffen in der bosnischen Stadt Jajce (auf Deutsch "Kleines Ei") einberufen. Die Ortschaft hat Symbolcharakter: 1943 wurde dort der jugoslawische Staat aus der Taufe gehoben. Die Stadt war mit ihren 50.000 Einwohnern aufgrund geographischer Gegebenheiten und der dicken Stadtmauern seit jeher schwer einzunehmen. Zahlreiche Parlamentarier versteckten sich während des Zweiten Weltkriegs dort. Auch der Atheist Tito hatte sich in einer Kirche in Jajce versteckt gehalten, und zwar in einer unterirdischen Kirche, die während der türkischen Besetzung gebaut wurde und für illegale katholische und orthodoxe Gottesdienste gebraucht wurde.
1992 besetzten die Serben die Stadt und zerstörten alle Kirchen: zwei katholische, eine orthodoxe und drei Moscheen, wovon eine in der Welt einzigartig war: Sie war ausschließlich für Frauen! Dann kam 1994 und 1995 die kroatische Armee. Fast die gesamte Stadtbevölkerung von 50.000 Menschen, von denen 36% BosnierInnen, 35% KroatInnen und 17% SerbInnen sind, floh damals aus Jajce. Heute leben dort noch 25.000 Menschen (7.000 sind heute in Schweden), die ethnische Zusammensetzung ist immer noch sehr gemischt. In der Stadtmitte steht ein Monument, auf dem 200 Namen von Menschen eingraviert sind, die alle ungefähr 1972 geboren wurden und 1992 gestorben sind. Man geht davon aus, dass 40% der Bevölkerung Bosniens unter dem Trauma des Krieges leidet.
Die wunderbare mittelalterliche Altstadt, mit ihrem auf der Welt einzigartigen Wasserfall mitten im Stadtgebiet, steht unter einer ständige Giftwolke. Diese kommt von der Fabrik "Elektrobosna", die in diesem Teil Europas größte Ferrosilicium-Fabrik. Vor dem Krieg arbeiteten 2.500 Menschen darin, heute gibt es noch gerade 450 Arbeitsplätze. Aber die Fabrik funktioniert ohne jegliche Filteranlagen: Sie wurden während den Kriegswirren abmontiert und verkauft!
Im Rahmen der Privatisierungen in Bosnien werden zahlreiche Unternehmen an ausländische Investoren, insbesondere österreichische, verkauft. Diese scheren sich einen Deut um die Gesundheit der Bevölkerung. Solche Produktionsanlagen wurden aus Gründen des Umweltschutzes in Westeuropa längst geschlossen.
Während des Treffens haben die 50 Jugendlichen aus den verschiedenen Republiken ex-Jugoslawiens einen Aktionsplan erstellt, um den Fabrikdirektor zu zwingen, Filteranlagen zu installieren. Zahlreiche Jugendliche berichteten von ähnlichen Problemen in ihren Gemeinden.
Eine der größten Herausforderungen bleibt die Koexistenz verschiedener Nationalitäten. Die KongressteilnehmerInnen waren sehr beeindruckt, denn das Zusammenleben drei verschiedener Ethnien verläuft in Jajce immer noch relativ reibungslos. Einige Radioprojekte wurden initiiert, mehrere Jugendliche machen Psychologie-Ausbildungen, um sich der zahlreichen Probleme der traumatisierten Menschen anzunehmen. (Eine der Folgen dieser Traumata ist z.B. eine überproportional hohe Anzahl von taubstummen Kindern...) Es ist sehr schwierig für die Jugendlichen Bosniens, sich für die anstehenden Probleme einzusetzen, sie sind von allgegenwärtigen Kriegsverbrechern umgeben, mit einer völlig durcheinandergebrachten Bevölkerung konfrontiert und haben keinerlei Unterstützung von den lokalen Behörden. Die Arbeitslosigkeit ist enorm – in Jajce kommen auf 25.000 EinwohnerInnen ca. 1000 oder 2000 Arbeitsplätze. Zudem können viele Jugendliche mangels Wohnungen und Häuser, selbst wenn sie heiraten, oft nicht von zuhause wegziehen. So erstaunt es nicht, dass zahlreiche soziokulturelle Projekte nur in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen realisiert werden können.
Eine Volkszählung in Bosnien zeigte 1996, dass 92.000 Jugendliche weggezogen waren. Wenn die Abwanderung andauert, würden im Jahr 2030 gerade noch 7% Jugendliche dort leben, im Vergleich zu 25% heute oder sogar 40% im Kosovo.
Die Mitglieder von Gemeinden Gemeinsam Schweiz, die in Jajce dabei waren, können sich in Zukunft auf Beziehungen mit einer ganzen Reihe von Jugendlichen aus dem Balkan stützen, die sich ihrer Situation gegenüber auflehnen und entschlossen sind, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.