Die Cevennen erlebten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine enorme Auswanderungswelle. Die zumeist bäuerliche Bevölkerung zog in Bergwerke, Fabriken, in die Ebenen oder in den Krieg. Ein großer Teil der ehemaligen Gehöfte und Vorwerke blieb seitdem ungenutzt.
Kastanienhaine verkamen und wucherten zu, Gebäude und Stallungen verfielen mehr und mehr, hunderte Hektar Ackerland an den Berghängen lagen brach und wurden oft Opfer von Flammen. Seit einigen Jahren sieht man nun, wie sich neues ökonomisches Interesse für die niedriger gelegenen Zonen regt und mit Bodenspekulation paart. Vorher rechnete man dort mit geringen Erträgen. Subventionierte Kiefernpflanzungen (eine der Ursachen für das Austrocknen zahlreicher Quellen) bildeten bis vor kurzem die einzigen «Investitionen» der meist nicht ortsansässigen Großgrundbesitzer.
Nunmehr tun sich ungeahnte Profitquellen auf dank der Entwicklung von Tourismus, Agro-Tourismus und die durch modernste Kommunikationstechnik ermöglichte Heimarbeit von jüngst angesiedelten Personen, die jedoch ihre Lebensweise und städtischen Gewohnheiten beibehalten haben. Also wurde eine Infrastruktur hergerichtet, die den Bedürfnissen von Stadtbewohnern entspricht: Internetanschluss, breitere Strassen, asphaltierte Wege, Camping- und Hotelunterkünfte, kleinteilige Parzellierung. All das für eine vorwiegend in der Saison ansässige Bevölkerung, von der man den großen Geldsegen erhofft.
«Stadtflucht» seit den 1970er-Jahren
Diejenigen, die den Städten wirklich den Rücken kehren, um sich in abgelegenen Winkeln der Berge niederzulassen, sind ökonomisch lange nicht so interessant wie jene Saisonbewohner. Schon in den 1970er Jahren gab es, bewegt vom rebellischen Atem der 68er, eine erste Welle von Neuansiedlern in den Cevennen, die die Hoffnung auf die Errichtung einer besseren Welt im Gepäck hatten. Einige sind wieder abgezogen, andere sind geblieben und haben ihren Weg gemacht. Schwierigkeiten gab es schon damals. Viele Bauern hielten ihre Türen offen, teilten ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit und überließen einen Teil ihrer brachliegenden Äcker zur Nutzung; etliche jedoch haben diesen «Fremden» mit ihren anderen Sitten misstraut und wollten keinen noch so kleinen Zipfel ihrer ungenutzten Flächen hergeben. Seit einigen Jahren kann man nun eine Art «Stadtflucht» zumeist junger Menschen beobachten, die genug haben von Existenzunsicherheit und den Fallstricken des «modernen Lebens». Armut, ungezügelte Konkurrenz, Einsamkeit und eine vergiftete Umwelt treiben die Exilsuchenden weg vom Asphalt und den Ballungszentren. Sie fliehen vor immer schlechteren Lebensbedingungen und vor kaum zu ertragendem finanziellen Druck (unbezahlbare Mieten, schmelzende Kaufkraft, Arbeitslosigkeit…). Hierher, wo die Bergwelt noch - soweit der Blick reicht - von der Monokultur industrieller Landwirtschaft verschont geblieben ist, kommen sie, um auf der Basis von Selbstversorgung zu leben und sich ein Stück Autonomie, Freiheit und Ruhe zu verschaffen. Sie wollen Lebensformen und Wohnweisen erfinden, besser - wieder finden, die sich von denen unterscheiden, in die wir mehr und mehr eingepfercht werden. Die Neuankömmlinge bebauen den Boden, restaurieren alte Bauten oder bauen Hütten und andere Leichtunterkünfte in den bewaldeten Bergen, die sie bewirtschaften und mit denen sie in Harmonie leben. Sie haben nicht den Ehrgeiz, Bauern zu werden, wie ihre Vorväter, sie streben eher nach einfachem Leben, danach, das anderswo zerrissene Band der Solidarität wieder zu knüpfen und den Gefallen an den Dingen und deren Herstellung in menschlichen Dimensionen wieder zu entdecken.
Die Neuansiedlung wird schwieriger
Heute haben viele (auch die Alten) ein Interesse an einer Wiederbesiedlung der Täler und Berge. Der Boden ist jedoch zum großen Teil in den Händen reicher Besitzer oder gehört öffentlichen Institutionen, deren wesentliche Aktivität bis jetzt die Pflanzung von Nadelhölzern ist. Bei den Behörden liegen Pläne zur Umgestaltung und räumlichen Neuordnung dieser Gebiete, die keinen Platz für autonome Projekte lassen. Hier wie auch in den Alpen oder den Pyrenäen werden die Neusiedler entsprechend ihres Geldbeutels oder der marktwirtschaftlichen Eignung ihrer Projekte bewertet. Bodenbearbeitung, Tierzucht und Unterkunft haben strengen Hygienenormen zu entsprechen, die alles in einheitliche, allgemein geltende Muster pressen. Das Wirtschaften zur Selbstversorgung, die Hütten und provisorischen Einrichtungen sind nicht willkommen. Mit Planen geflickte Dächer, Plastikbehälter, die so lange als Zisternen dienen, bis Quellen und Bassins wieder sprudeln, Autowracks als Ersatzteillieferanten wegen des Verschleißes auf den Naturpisten … all das befleckt das Postkartendekor, wie es in Touristenbüros und von Immobilienhändlern angeboten wird. Für all diese «Traum-Verkäufer» ist die Vergangenheit das Aushängeschild, aber in musealer und folkloristischer Form.
Kontrolle und Repression
Diese Politik der Normierung und der Gewinnorientierung auch der letzten Freiräume ist der logische Gang des kapitalistischen Systems. Zwangsläufig wird sie begleitet von einer Politik der Repression gegen diejenigen, die sich dem Diktat des Marktes nicht unterwerfen wollen oder können. Landesweit wird diese ausgeübt, mit lokalen Besonderheiten. Von Überwachungskameras an Straßenecken bis zu regelmäßigen Flügen über ländliche Gebiete zum Aufspüren von illegalen Hüttenbauten reicht das Spektrum. Das Land ist in Planquadrate segmentiert und wird streng kontrolliert.
Die Sans-papiers werden vor der Schultür, bei sich zu Hause, in den Bars, bei der Arbeit, in ihren zerstörten Eigenbauunterkünften im Lozère oder im Ariège verfolgt, Unerwünschte werden verjagt. Die Untergrabung der sozialen Sicherheit, der Beschiss mit dem Euro und mit Europa, Armut und Schinderei zum Monatsende betrifft immer mehr Menschen. Der Staat erklärt «rechtsfreien» Räumen den Krieg, die Cevennen sind einer davon. Von bestimmten übereifrigen Bürgern wird diese Politik mitgetragen. Die machen sich hemmungslos die Finger schmutzig, um die Nichtwillkommenen das Verschwinden zu lehren. Ein Klima der Feindschaft, der Einschüchterung und der Denunziation ist zunehmend spürbar, hier wie anderswo.
Hier und dort jedoch tun sich Leute zusammen, um ihre Bemühungen zu vereinen, Widerstand und Projekte autonomen Lebens zu organisieren. Immer zahlreicher werden diejenigen, die nichts mehr von den Staatsorganen erwarten und sich demzufolge selbst organisieren. Außerhalb der Institutionen gibt es eine breiter werdende Solidarität, oft haben Anwohner vor Ort dann aktiven Anteil, wenn für sie nicht zwangsläufig der Stärkere im Recht ist.
La Picharlerie
Im Bewusstsein dieser Verhältnisse entstand ein Kollektiv (namenlos - zunächst?) in den Niederen Cevennen, um hier und jetzt zu leben und Widerstand zu leisten. Es umfasst Personen, die sich in unterschiedlicher und vielfältiger Art und Weise, konträr zum Einheitsmodell, angesiedelt haben oder den Wunsch dazu hegen und die es für notwendig halten, gemeinsam nachzudenken und zu handeln.
Das Kollektiv will in aller Öffentlichkeit die Frage nach der Nutzung von Boden und Wohnbauten, nach aufgegebenen Flächen, nach Bauern ohne Land stellen und auch nach denjenigen, für die die Täler ganz einfach voller Leben sind, das zu ersticken man sich verschworen hat.
Es wendet sich an die Einwohner der Region, die diese lebendig erhalten wollen. Das Kollektiv bietet im Rahmen seiner Kräfte Hilfe an für die, die hier ein Projekt zum Leben unabhängig von Marktdogmen und regionalen oder europäischen Direktiven beginnen und fortführen wollen, und für die, denen ganz einfach die Mittel fehlen: Die Palette umfasst Bauen außerhalb der Normen, illegale Besetzungen, Rekultivierung der Böden für die Selbstversorgung etc. Es bietet zudem die gemeinsame Nutzung von Arbeitsmitteln an (Trocknungsanlagen, Pressen, Werkzeuge…), wie auch die Organisation kollektiver Baustellen, die Weitergabe von Wissen und Techniken. Das ist eine Art von Zusammenschluss, die auf unmittelbarer Zusammenarbeit und Selbständigkeit beruht sowie der gegenseitigen Hilfe bei der Fortführung der Projekte. Es möchte Gelegenheiten schaffen, sich kennen zu lernen und zu bereichern, sich jenseits angeblicher Unterschiede von Kultur und Identität zu treffen.
Im Bewusstsein dessen, dass die Politik der Repression sich verschärfen wird, bietet das Kollektiv die Bildung einer Gegenkraft an, die den verschiedenen Verwaltungs- und Staatsorganen widerstehen, die Räumungen einschränken oder gar verhindern kann ebenso wie die Zerstörung von Räumen zum Leben und kultivierter Erde. Zum anderen möchte das Kollektiv sich mit denen solidarisieren, deren Unternehmungen und Widerstände in dieselbe Richtung gehen.
Das Kollektiv funktioniert autonom ohne Hierarchie und ohne Spezialisten und ist nicht an Institutionen gebunden. Es steht allen Personen offen, die Ziele und Funktionsweise des Kollektivs akzeptieren.
Entscheidungen werden in regelmäßig stattfindenden Versammlungen im Konsensverfahren getroffen. Verantwortung für eine definierte Aufgabe und eine bestimmte Zeit wird in Versammlungen erteilt und an freiwillige Personen vergeben. Sie müssen der Versammlung Rechenschaft ablegen und sind durch diese abrufbar.
Das Kollektiv nutzt, um Informationen und Vorschläge zu verbreiten, seine eigenen und andere autonome Kommunikationsmittel. Es bevorzugt direkte Informationswege, um die von dieser Gesellschaft aufgezwungenen, sinnentleerten Medien zu umgehen. Und es positioniert sich gegen die Nutzung dieser allgegenwärtigen und zu allem fähigen offiziellen Medien und Institutionen.
Auf jeden Fall hat das Kollektiv weder Sprecher noch Vorsitzenden und wenn es angebracht scheint, eine Nachricht an andere weiterzugeben, dann geschieht das kollektiv. Was hier vor sich geht, findet auch anderswo statt: Auf die sich ausbreitende Repression wird mit vielfältigen Formen von Widerstand geantwortet.
Provisorische Kontaktadresse: lapich(at)no-log.org,
Informationen unter http://lapicharlerie.internetdown.org