«Ich muss sagen, dass ich geschockt bin. Früher habe ich geglaubt, dass die Leute hier in Frankreich reagieren, wenn etwas Seltsames in ihrem Umfeld passiert, oder dass sie versuchen, es zu verstehen. Aber das geht hier schon sechs Monate lang so und nicht erst seit ein paar Tagen. Wir haben Nachbarinnen und Nachbarn - auch wenn die Medien nicht von uns berichten - wäre es das mindeste, dass die Leute, die in unserem Umfeld wohnen, hierherkommen und sich ansehen, was hier läuft.»
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Fatma ist eine der Sans-Papiers , die die Bourse du Travail 1 in der Rue Charlot 85, einige hundert Meter vom Platz der Republik in Paris, besetzen. Vor fünf Jahren ist sie aus Tunesien hierher gekommen, gemeinsam mit ihrem Mann. Sie hat zwei Kinder im
Alter von drei und fünf Jahren.
«Wir besetzen diese Hochburg der ArbeiterInnen seit dem 2. Mai 2008. Momentan sind es 1.300 Leute, die hier abwechselnd mitmachen. Unser Ziel ist es, die Legalisierung aller Sans-Papiers zu erreichen, die isoliert arbeiten.» Dijbril ist einer der Delegierten in der Bourse , der von den vier Kollektiven gewählt wurde, welche die Koordination der Papierlosen bilden (Coordination des Sans Papiers - CSP 75).
Was wir bei unserem Besuch sehen, ist äußerst bemerkenswert. Wir finden uns in einem riesigen Konferenz-Saal im Erdgeschoss wieder. Ca. 200 Matratzen sind am Boden ausgebreitet. Es ist Mittag und einige Sans-Papiers ruhen sich gerade aus. Zu Beginn schliefen alle 1.300 BesetzerInnen hier im Gebäude. Vor einigen Wochen haben sie eingewilligt, zwei Stockwerke freizugeben, damit die Gewerkschaften dort ihre Arbeit machen können. Seither sind hier 800 Papierlose pro Nacht untergebracht. Sie wechseln sich nach einem Rotationsprinzip ab. Die meisten von ihnen kommen aus Subsahara-Afrika, es gibt aber auch ArbeiterInnen aus dem Maghreb, aus asiatischen Ländern, einige kommen aus der Ukraine oder aus Lateinamerika. Zum größten Teil sind es Männer, wir sehen aber auch viele Frauen und Familien mit Kindern, die jeden Tag zur Schule gehen.
Im Hof des Gebäudes bereitet ein Duzend afrikanischer Frauen die kollektive Mahlzeit vor, eine Gruppe von Männern ist mit Unterlagen für ihre Legalisierung beschäftigt; eine Anzeige an der Wand verrät uns, dass es jeden Donnerstagabend einen Französischkurs gibt.
Vor der Tür sitzt ein Sans-Papiers -Aktivist mit einer Solidaritätskasse. Finanzielle Unterstützung kommt vor allem von Individuen - von einigen SympathisantInnen, die das Abenteuer von Beginn an verfolgt haben, von Anne, die Solidaritäts-T-Shirts herstellt und verkauft, von Laura, die Bilder malt, die in Form von Postkarten verkauft werden... Was fehlt, ist die Unterstützung durch Gewerkschaften und Vereinigungen.
«Wir sind eine Bewegung wie alle anderen Bewegungen der Sans Papiers. Ich verstehe nicht, warum alle Medien zur Stelle sind, wenn zehn Personen ein Restaurant besetzen und bei uns niemand auftaucht, wenn wir die Bourse du Travail mit 1.300 Leuten besetzen.» (Fatma)
Die CGT
Die Lage ist tatsächlich äußerst schwierig: Die kommunistische Gewerkschaft CGT hatte letzten April gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation Droits Devant beschlossen, in einer großen Aktion Besetzungen und Streiks von Sans Papiers in der Region von Paris zu unterstützen. Einzig: Die CGT konzentriert sich auf Unternehmen, die mindestens zehn ArbeiterInnen beschäftigen – dort können Betriebsräte eingesetzt und Streiks ausgerufen werden. Das Problem besteht nun darin, dass der größte Teil der Sans Papiers in Frankreich so genannte «isolierte ArbeiterInnen» sind. Sie arbeiten in kleinen Fabriken, wo weniger als zehn ArbeitnehmerInnen beschäftigt sind bzw. allein im Security-Bereich, in der Hausarbeit oder in der Altenpflege. Laut Djibril sind all die BesetzerInnen der Bourse du Travail in Sektoren beschäftigt, die nur dank dieser billigen Arbeitskräfte funktionieren – die meisten von ihnen arbeiten ohne Vertrag. Viele begannen nun im Zuge der Besetzung zu streiken oder sie gaben ihren Job auf.
Die CGT, die Büros in der Bourse unterhält, interpretiert diese Aktion als einen Angriff auf sich – als ein feindseliges Unterfangen, das sie daran hindert, als Gewerkschaft problemlos zu funktionieren. Es gibt Gerüchte, dass eine Räumung droht. Dabei sehen die Sans Papiers ihre Aktion eher als einen Hilferuf an FreundInnen und KollegInnen, eben an die GewerkschafterInnen. Fatma: «Ich sehe die Bourse als einen Zufluchtsort. Wir, die Sans Papiers, sind in Gefahr, da wir uns außerhalb des Gesetzes bewegen. Die Tatsache, hier zu sein, verleiht uns also Kraft und Mut. Und an einem solchen Ort, der ja der Ort der ArbeiterInnen ist, fühlen wir uns auch sicher. Wir wollen niemandem schaden, wir wollen nur Zuflucht finden, und wir dachten, dass wir von den Besitzern dieses Ortes besser unterstützt werden würden. Mein Mann ging nur ein einziges Mal von der Besetzung nach Hause und in dieser Nacht wurde er verhaftet. Das hat uns dazu veranlasst, diesen Ort nicht mehr zu verlassen.»
Das aktuelle Verhältnis zur CGT ist äußerst schlecht. Unlängst waren die BesetzerInnen der Bourse du Travail von BolivianerInnen eingeladen worden, beim Fest der Humanité 2 den offiziellen Stand Boliviens mit zu nutzen. Laut einem Pressekommunique der CSP75 handelte es sich um eine «Geste der Solidarität mit unseren Forderungen nach Regularisierung (...) sowie um ein konkretes Zeichen der Opposition gegen die ‚Direktive der Schande’ 3 , die vor einigen Monaten von Boliviens Präsident Evo Morales kritisiert worden war».
Am Nachmittag des 12. September haben plötzlich ca. ein Dutzend Ordnungskräfte der CGT die vier VertreterInnen der Koordination 75 umringt, die Flugblätter zerrissen, die Postkarten auf den Boden geschmissen und versucht, den ganzen Infotisch umzukippen (...). «Sie haben unseren GenossInnen gesagt, dass sie als Antwort auf unsere Besetzung der Bourse du Travail nun unseren Stand besetzen würden. Dann haben sie lautstark kundgetan, dass die Sans Papiers CSP 75 in Bezug auf ihre Regularisierung ‚gar nichts erreichen‘ würden».
Einige Tage später wurde einer Delegation der CSP75 der Zutritt verweigert, als sie die Besetzung eines Restaurants durch Sans-Papiers , die von der CGT unterstützt wurde, besuchen wollte. Ein Verantwortlicher der CGT gab ihnen zu verstehen: «Ihr habt euch im Ziel geirrt. Wir werden alles tun, um eure Ansuchen auf Regularisierung zu blockieren. Heute Morgen habe ich mit dem Polizeipräfekten von Paris gesprochen – so lange ihr die Bourse du Travail besetzt, gibt es keine Legalisierung!»
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Konstruktivere Methoden?
Im Kommunique heißt es weiter: «Unsere Ziele und unsere Methoden, die heute nicht mehr geschätzt werden, sind jedoch keine anderen als diejenigen, die bei den Kirchenbesetzungen von St. Bernard, in der Basilika von St. Denis oder in Cachan angewandt wurden. Die BesetzerInnen dieser Orte waren vor kurzer Zeit noch bei ihnen (der CGT und verschiedenen anderen Organisationen) willkommen, sie wurden unterstützt und ermutigt – nun sind sie ihre größten Widersacher. Dabei war unser Ziel, einen Ort zu besetzen, von dem angenommen werden konnte, dass man uns dort freundlich gesonnen war. Damit wollten wir eine große Solidaritätsbewegung schaffen, die die Regierung dazu bewegen würde, einzulenken. Alle, die in den Kämpfen seit der Kirchenbesetzung in St. Bernard dabei gewesen sind, wissen das nur zu gut.» (aus der Zeitung der Besetzung der Bourse du Travail Nr.7, vom 10 Oktober 2008)
Die CGT verlangt von den zwischenzeitlichen BewohnerInnen der Bourse du Travail , den Ort zu verlassen und konstruktivere Methoden der politischen Auseinandersetzung zu suchen. Wo sollen diese isolierten und zu jedem Zeitpunkt von der Abschiebung bedrohten Arbeiter-Innen jedoch hingehen, wenn nicht zu «Freunden»?
Für mich sind die Geschehnisse, die sich in den letzten Monaten in der Rue Charlot zugetragen haben und die weitgehend auf Desinteresse oder sogar Ablehnung gestoßen sind, der Beweis für die außergewöhnliche Kapazität der Sans-Papiers , sich über eine lange Dauer zu organisieren und Widerstand zu leisten – all das in Selbstverwaltung und mit großem Kameradschaftsgeist 4. Vielleicht ist es genau das, was stört. Denn bei den Aktionen, die mit der Unterstützung der CGT durchgeführt werden, tut die Gewerkschaft alles, um das Kommando nicht aus ihren Händen zu geben. Als ich im Mai mehrere Restaurants besuchte, in denen Sans-Papiers in Streik getreten waren, lehnten diese ein Interview für Radio Zinzine ab und sagten, ich solle mich dafür an die CGT wenden.
Die Besetzung der Bourse du Travail ist nicht nur vom politischen, sondern auch vom persönlichen Aspekt ein wunderbares Abenteuer. Frauen, Männer und Kinder aus zahlreichen Ländern, mit unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen teilen diesen Ort seit fast sechs Monaten. Alle erkennen an, dass es nicht immer einfach war, vor allem zu Beginn. Fatma: «Ich denke, dass es eine geniale Erfahrung ist. Ich bin ein weltoffener Mensch, ich habe fast überall Freunde und Freundinnen, Leute, die aus China oder aus Afrika kommen, Franzosen und Araberinnen. Aber hier habe ich mich dazu entschlossen, viel Zeit mit einer großen Anzahl Menschen verschiedener Völker zu verbringen, die versammelt sind, um gemeinsam etwas zu erreichen. Ich bin der Meinung, dass der Reichtum auch darin besteht, sechs Monate zusammenzubleiben, Ideen auszutauschen und sich auch darüber zu verständigen, wie gekocht wird oder wie die Kinder erzogen werden. Und wenn das für uns ein Reichtum ist, dann ist es für die Franzosen und Französinnen auch ein Reichtum! Die Tatsache, andere Ideen zu haben, bedeutet immer eine Bereicherung. Wir haben untereinander Freundschaften geschlossen und selbst wenn wir keine Papiere bekommen, habe ich Freundinnen und Freunde gefunden - ich würde sogar sagen, eine Familie...»
Ich kann euch nur empfehlen, selbst diesen Ort, wenige Schritte vom Platz der Republik, zu besuchen. Der Empfang ist herzlich und der Bedarf an Unterstützung und Ermutigung groß.
*nicholas.bell(at)gmx.net
Für weitere Informationen in
französischer Sprache:
http://bourse.occupee.free.fr/
Coordination 75, Sissoko:
au 0033 (0)6 26 77 04 02
Diallo: au 0033 (0)6 99 01 81 59
Bourse du Travail – Arbeitsbörse, ursprünglich Arbeitsvermittlungsstelle, heute Sitz der Gewerkschaften in fast allen großen französischen Städten.
Fête de l’Humanité – Jährliches Fest der Kommunistischen Partei Frankreichs
Am 18. Juni hat das Europäische Parlament neue EU-weite Regelungen über die Rückführung illegaler Einwanderer in ihre Herkunfts- oder Transitländer angenommen. Die Regelungen sehen vor, dass Menschen vor ihrer Ausweisung für einen Zeitraum von bis zu 18 Monaten inhaftiert werden können, ohne Gerichtsverfahren und somit ohne jede rechtliche Rekursmöglichkeit. Siehe Archipel Nr. 162, Juli 2008
All das erinnert mich an die unglaublich starke Solidarität, die bei afrikanischen MigrantInnen vorherrscht, wenn sie sich in äußerst schwierigen Situationen auf ihrer Reise durch die Wüste, auf der Meeresüberfahrt oder in Elendssiedlungen zwischen den Plastikgewächshäusern in Almeria in Andalusien befinden