Der Eiserne Vorhang ist gefallen, vor nunmehr dreizehn Jahren. Doch viele Westeuropäer schliessen die Osteuropäer noch immer, allein durch den Gebrauch von Worten, aus: Europa umfasst für sie die Länder der Europäischen Union. Die Zugehörigkeit zum alten Kontinent misst sich daran, ob osteuropäische Länder „bereit" sind zum Beitritt. Osteuropäer sprechen eher von einer Neuorganisation Europas als von Erweiterung, Beitritt oder ähnlichem. Als jemand, der auf Grund der Zufälligkeit der Geburt erst hinter oder vor (je nach Sichtweise) dem Eisernen Vorhang gelebt hat, fällt es mir immer wieder auf.
Auch auf dem grossen Treffen der für Veränderung der Verhältnisse eintretenden Westeuropäer in Florenz war es so: Osteuropa kommt schon vor, ist Thema einer Debatte und einiger Seminare und Workshops. Und doch ist es nicht wirklich präsent. Auf dem unübersichtlichen, beliebigen „Markt der Möglichkeiten", der Bücher, T-Shirts, Porträts von Öczalan und Che Guevara, Schmuck, Pamphlete uvm. anbietet, sucht man Matroschkas, Körbe aus Transkarpatien, Schaffelle aus den polnischen Beskiden oder Bücher und Broschüren mit kyrillischen Buchstaben vergebens. Ein Grund ist sicher die Schwierigkeit, in die Schengen-Staaten einreisen zu können, ein anderer die immensen Reisekosten oder Wegstrecken. Fünf Tage mit Zug und Bus von Sibirien bis Florenz, vier Tage Europäisches Sozialforum und wieder fünf Tage zurück...
Für den Donnerstagnachmittag war ein Workshop mit Landwirten aus Osteuropa angekündigt, leider ohne Ort, aber wenigstens mit den Telefonnummern der Organisatoren. Nach dem es mir nicht gelang, sie zu erreichen, wendete ich mich an die Leute des Informationspunktes im Pressezentrum. Zwei Italiener versuchten, mir zu helfen. Nach einer erfolglosen halben Stunde dankte ich ihnen und verabredete mich mit Roberto zum Essen.
Die Debatte in Florenz am Freitagvormittag, dem 8. November 2002, stand unter dem Thema „Zentral- und Osteuropa auf dem Weg in die globalisierte Welt: Alternativen zum Neo-Liberalismus; Resultate von Privatisierung und Liberalisierung; Osterweiterung der Europäischen Union; soziale Probleme und gemeinsame Alternativen". Gleichzeitig fand in Fiesole, einem Dorf oberhalb von Florenz, im „Casa del populo" ein Treffen mit der Gruppe „Alternative Russland" statt. Da ich Grossveranstaltungen nicht sehr mag, entschied ich mich für das Treffen mit der Gruppe. Im Volkshaus wurde ich freundlich empfangen und in einen Saal geführt, der zwar gross, aber leer war. Etwa eine halbe Stunde nach Beginn des Seminars kamen drei Leute, die enttäuscht in den Raum sahen. Wir stellten einander vor und entschlossen uns, Kaffee zusammen zu trinken. Zwei von ihnen kamen aus Moskau und Igor aus Leningrad, wie er bei seiner Vorstellung betonte. Sie gaben mir eine Broschüre mit dem Titel „Soziale, ökonomische und kulturelle Widersprüche im Prozess der Transformation", wir tauschten die Adressen, und sie fuhren zurück nach Florenz. Da um 14.00 Uhr das nächste osteuropäische Treffen hier sein sollte, hatte ich Zeit, mir das Dorf anzusehen und von oben auf die Stadt Florenz zu schauen.
Diesmal kamen ungefähr zwanzig junge Leute. Bei der Vorstellungsrunde stellte sich heraus, dass sich die meisten aus verschiedenen gemeinsamen Aktionen kannten. Sie kamen von Indymedia Moskau und Petersburg; von Nawinki, einer politisch-satirischen Zeitschrift aus Minsk; von Tigra-Negra aus Kiew; den Jungen Anarchisten aus Riga und Zagreb; von Attac Polen und der Osteuropa-AG aus Berlin. Nur Paul Thatcher von der Socialist Workers Party aus Großbritannien und ich waren neu in dieser Runde. In der Osteuropa-AG haben sich sechs bis acht Leute aus Berlin zusammengefunden und 1997 ein Treffen mit anarchistischen Gruppen in Moskau organisiert. Ende der neunziger Jahre waren sie dabei, als etwa 600 Leute aus verschiedenen osteuropäischen Ländern gegen das Atomkraftwerk Temelin in der Tschechischen Republik protestierten. Bis zum IWF-Gipfel im Sommer 2000 in Prag blieb es bei losen Kontakten einzelner der verschiedenen Gruppen. Das Prager Treffen bereiteten sie dann gemeinsam vor und beteiligten sich dort an verschiedenen Aktivitäten. Ein gutes Mittel, miteinander im Kontakt zu bleiben, ist die Indymedia-Seite in Russisch, die jetzt seit einem Jahr im Internet ist und von Gruppen vieler Länder der ehemaligen Sowjetunion genutzt wird. Für die nächste Zeit haben sich die Indymedia-Nutzer vorgenommen, theoretische und praktische Perspektiven per Internet zu diskutieren. Ausserdem wollen sie sich über die Seite zu weiteren Grenzcamps koordinieren. Eine neue Seite soll eingerichtet werden, in der eine anarcho-feministische Auseinandersetzung geführt werden soll. Inzwischen ist auch die Indymedia-Seite Prag im Internet.
Zur Vorbereitung des Europäischen Sozialforums in Florenz trafen sich Vertreter der verschiedenen Gruppen eine Woche vorher in Berlin. Dort einigten sie sich darauf, in Florenz zu folgenden Themen zu arbeiten: Situation und Probleme der politischen Aktivisten in Osteuropa; Zusammenarbeit der Gruppen Ost-Ost und Ost-West; internationale Vereinigungen wie WTO, IWF, NATO, transnationale Unternehmen, Atomindustrie; Großstädte.
Mischa von Indymedia Moskau fasste zusammen, was seine Gruppe diskutiert hat: Sie stellte sich die Frage, warum die Antiglobalisierungsbewegung in Osteuropa zu schwach sei und fand, dass dies vor allem daran liege, dass es keine sozialen Bewegungen in diesen Ländern gäbe. Die Osteuropäer würden zu wenig reflektieren, was Globalisierung bedeute und wie sie sich auf ihre Länder auswirke. Dazu sagte Wlad von der Zeitschrift Megaphon aus Moskau, dass vor 15 Jahren die sozialen Bewegungen in Osteuropa sehr stark waren, da mit Perestroika und Glasnost Öffnung, positive Veränderungen und Visionen verbunden wurden. Mit den ökonomischen Reformen ist diese Bewegung zusammengebrochen, die Menschen sind seither mit Überlebensproblemen beschäftigt.
Julia aus Kiew erzählte von den verschiedenen Grenzcamps, an denen sie teilgenommen hatten. Es waren jeweils Camps an der polnischen Grenze zu Russland, Belorussland und der Ukraine, in denen die Teilnehmer aus diesen sowie einige Jugendliche aus westeuropäischen Ländern sich gegen die neuen Visaregelungen verwahrten. Die Bevölkerung, in deren Region sie sich jeweils befanden, unterstützten die Anliegen der Grenzcamps. Den Menschen der Grenzregionen ist bewusst, dass sich ihre Situation rapide verschlechtert, wenn der kleine Grenzverkehr wegfällt. Eine Voraussetzung für den „Beitritt" der verschiedenen osteuropäischen Länder zur EU ist die strikte Absperrung ihrer Grenzen nach Osten. In den Camps diskutierten die Teilnehmer über Antirassismus, Feminismus und die Globalisierung. Julia bedauerte, dass die Kontakte zu den Teilnehmern wie zur ansässigen Bevölkerung oft nur solange hielten, wie ein Camp dauerte.
Shenja aus Petrograd und Nastja aus Minsk sprachen über die ökonomische Invasion westlicher Unternehmen. Diese finden in Osteuropa gute Bedingungen vor, da die sozialen Bewegungen schwach sind und der Apparat korrupt ist. Dennoch gab es Streiks der Arbeiter bei McDonalds in Moskau und bei Nestlé in Samara gegen die schlechten Arbeitsbedingungen. Auch gegen die Internationale Bank für Wiederaufbau gab es Proteste, als diese Kredite zum Aufbau von Atomkraftwerken geben wollte. Aber das Gesetz zum Import von Atommüll passierte kürzlich die Duma (russisches Parlament). Für die jungen Leute stellt sich die Frage, wie Proteste dagegen zu organisieren seien. Und was man tun könne, damit die westeuropäische Antiatombewegung nicht einschlafe, wenn die Endlager im Osten und Süden erst installiert sind.
Aber auch russische Firmen expandieren, so gibt es ein Tankstellennetz in Tschechien, besonders in Prag, und Maschinenfabriken aus Russland und Belorussland werden nach Lateinamerika ausgelagert.
Jelena aus Zagreb interessierte sich dafür, wer zum NATO-Gipfel Mitte November nach Prag fahren würde. Ihre Gruppe schaffe es nicht, aber sie organisiert mit einer Gruppe aus Slowenien Anti-NATO-Aktionen an diesem Wochenende in Slowenien und Kroatien.
Roman berichtete von einem lokalen Sozialforum im Sommer 2002 im polnischen Schlesien. Die dortige Attac-Gruppe beschloss, im Frühjahr 2003 in Ungarn ein osteuropäisches Treffen zur Vorbereitung des Europäischen Sozialforums in Paris zu organisieren.
Paul Thatcher von der Socialist Workers Party in Großbritannien beschrieb, wie sehr ihn die Größe, Stärke und Art der osteuropäischen Bewegungen um 1989 beeindruckt habe. Darauf reagierte Oleg aus Minsk ziemlich ironisch: „Im vorigen Jahrhundert haben sich die Leute im Osten oft bewegt und immer gehofft, dass die Wellen die Westler erreichen und bewegen werden, dreimal besonders kräftig – 1917, im zweiten Weltkrieg, um 1989. Wie halten wir‘s in diesem Jahrhundert miteinander?"