Die demokratische Wahl Salvador Allendes zum Regierungspräsidenten Chiles war weltweit ein Freudentag. Die Hoffnung auf einen "Dritten Weg" in Lateinamerika war groß. Wir hielten damals eine soziale Entwicklung von Ländern wie Chile für möglich. Die Regierung Allende war jedoch von Anfang an bedroht.
Im Sommer 1972 hatten wir in der Schweiz die "Gesellschaft der Freunde Chiles" ins Leben gerufen. Die Initiatoren war die Lehrlingsgruppe Hydra, die späteren Gründer von Longo maï. Wir hatten die Idee, durch einen direkten Austausch von Lehrern, Ärzten und Handwerkern, mit Gewerkschaftern, Gewerbe- und Gemeindevertretern, das mutige Regierungsprojekt Allendes durch die Erfahrungen aus anderen Ländern zu unterstützen. Mit einer starken Präsenz von Bürgern aus aller Welt in Chile wollten wir sogar einem möglichen Umsturz vorbeugen. Wir konnten viele Kontakte knüpfen, aber die Zeit war zu kurz.
Der Putsch in Chile
Mit der Unterstützung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA stürzte das Militär unter Führung von General Pinochet Präsident Salvador Allende am 11. September 1973. Der Putsch war schockierend und ungeheuer blutig. Nicht nur Allende, Zehntausende von Chilenen kamen beim Putsch und in den Jahren danach ums Leben. Stadien wurden zu Konzentrationslagern umgebaut, die Gewalt der Armee gegen die eigene Bevölkerung bestimmte von nun an den Alltag. Wir konnten nicht einfach zuschauen, wir mussten etwas tun. Unter den Opfern waren unsere Freunde. Gemeinsam mit anderen Betroffenen versuchten wir, die Schweizer Regierung dazu zu bewegen, an die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung zu appellieren und bedrohte Chilenen als Flüchtlinge aufzunehmen, wie dies im Falle von Ungarn und der Tschechoslowakei erfolgreich durchgeführt worden war. Die Regierung in Bern war nicht bereit, auch nur einem einzigen bedrohten Chilenen freiwillig Asyl zu gewähren.
Freiplätze
Jetzt wandten wir uns direkt an die Schweizer Bevölkerung. Zusammen mit dem Flüchtlingskaplan Cornelius Koch verfassten wir Anfang Dezember 1973 einen Brief, den wir an alle 9000 politischen Gemeinden und Kirchgemeinden der Schweiz verschickten. Er enthielt die Bitte, im Rahmen einer Freiplatzaktion in jeder Schweizer Gemeinde, 5 bedrohten Chilenen Aufnahme zu gewähren. Doch kurz vor Weihnachten erhielten die Kirchgemeinden nochmals Post. Der Generalsekretär des HEKS und der Direktor der Caritas rieten in einem gemeinsamen Schreiben vom 21. Dezember 1973 den Gemeinden dringend ab, bei dieser Freiplatzaktion mitzumachen. Unter anderem meinten sie, eine Aufnahme von 5 Flüchtlingen pro Gemeinde sei "unrealistisch und undurchführbar". Die Chilenen sollten doch besser in Lateinamerika Asyl suchen. Die "Freiplatzaktion für Chileflüchtlinge", wie wir unsere Aktion fortan nannten, wurde jedoch von Hilfsangeboten aus der Bevölkerung regelrecht überschwemmt. Innert weniger Tage wurden uns Tausende von Freiplätzen offeriert. Sie stammten von Privatpersonen, Kirchgemeinden und politischen Gemeinden, von der Arbeiterstadt Biel bis zur ländlichen Gemeinde Titterten im Kanton Basellandschaft, vom St. Gallischen Grabs bis zur Stadt Genf. Die Parlamentarier des Kantons Tessin beschlossen an einer denkwürdigen Sitzung, als ganzer Kanton der Freiplatzaktion beizutreten, auf ihre Sitzungsgelder zu verzichten und diese für die Aktion zu spenden.
Eine breite Bewegung
In der ganzen Schweiz bildeten sich Empfangskomitees, welche die Aufnahme, medizinische Versorgung, Betreuung, Sprachkurse und Arbeitsplätze vorbereiteten. Die "Freiplatzaktion" war zu einer breiten Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern angewachsen. Die Liga für Menschenrechte, die Gewerkschaften, viele SP-Sektionen, die PdA, Amnesty, unzählige Kirchgemeinden beider Konfessionen, Kulturschaffende und zahlreiche spontan entstandene Bürgerinitiativen arbeiteten in diesem Rahmen zusammen. Ermutigt durch die überaus positive Reaktion in der Bevölkerung wandten wir uns erneut an den Bundesrat. Wir baten ihn, er möge von seiner harten Haltung abweichen. Bundesrat Kurt Furgler ging jedoch nicht darauf ein, sondern hielt eine Rede im Parlament, die so scharf formuliert war, als müsste er im Namen der Staatsräson einen humanitären Putsch der solidarischen Schweiz abwehren. Die Mehrheit der Nationalräte spendete ihm tosenden Applaus.
Reise nach Chile
Wir mussten die Flüchtlinge selber aus Chile holen. Aus dem Kreis der "Freiplatzaktion" fand sich rasch eine Delegation von Menschen, die bereit war, ein grosses Risiko einzugehen und nach Chile zu fahren. Es waren ein Pfarrer, ein Arzt, ein Anwalt, ein Kleinunternehmer und zwei Vertreter der vor einem Jahr gegründeten Kooperative Longo maï. Anfangs 1974 fuhren sie direkt nach Santiago de Chile, um Kontakte mit Kirchen- und Gewerkschaftskreisen aufzubauen, mit dem Ziel, die Ausreise bedrohter Chilenen zu organisieren. Unmittelbar nach ihrer Ankunft schwebte die Delegation in Lebensgefahr. In der chilenischen Zeitung "El Mercurio" war am Tag ihrer Ankunft zu lesen, eine subversive marxistische Delegation aus der Schweiz sei im Anmarsch, um sich in die inneren Angelegenheiten Chiles einzumischen. Die Delegation der "Freiplatzaktion" war durch unbekannte Kreise aus der Schweiz beim chilenischen Militär denunziert worden. Noch in derselben Nacht fuhr Kaplan Koch mit einem weiteren Mitglied der Freiplatzaktion zum privaten Wohnhaus des damals amtierenden Aussenministers der Schweiz, Bundesrat Pierre Graber. Er läutete ihn aus dem Bett und machte ihm in einem kurzen aber heftigen Gespräch über die Türschwelle klar, dass er persönlich für alles, was der Schweizer Delegation zustossen würde, politisch verantwortlich sei. Offenbar wurden in der Folge einige Hebel in Bewegung gesetzt. Die Delegation wurde nicht behelligt und der Schweizer Botschafter verhielt sich ihr gegenüber eher kooperativ. Für die Delegation begann ein schwieriger Balanceakt. Einerseits wusste man, dass die Pinochet-Diktatur bereit war, unbequeme Menschen ins Exil ziehen zu lassen, um sie loszuwerden, andererseits bestand die Gefahr, durch unvorsichtige Kontaktaufnahmen Menschen zu gefährden. Dank einer behutsamen Zusammenarbeit mit kirchlichen Kreisen konnte dieser Gefahr aus dem Wege gegangen werden.
Chilenische Flüchtlinge unerwünscht!
Die Delegation meldete bald eine erste Gruppe von fünf Gewerkschaftern an, die in die Schweiz ausreisen konnte. Beim Versuch, ihnen in der Schweiz einen Flug zu buchen, weigerte sich die Swissair spontan, ihnen ein Ticket auszustellen. Da es sich um einen Einfachflug handelte, hätten es ja Flüchtlinge sein können. Erst eine geharnischte Intervention mit dem Hinweis auf die Beförderungspflicht und die Genfer Konvention zwang die damals stolze Airline zum Nachgeben. Die fünf Gewerkschafter landeten in Genf-Cointrin. Ein Empfangskomitee, aus Genfer Bürgern, Nationalrat Jean Ziegler und Gemeindevertretern wartete auf sie. Die Gewerkschafter verlangten politisches Asyl, aber der Zoll liess sie nicht einreisen, obwohl damals für Chilenen kein Einreisevisum für die Schweiz nötig war. Durch die Ereignisse in Cointrin alarmiert, versammelten sich alle sieben Bundesräte noch in der selbigen Nacht, um zu entscheiden wie mit den fünf unbequemen Gästen zu verfahren sei. Der Bundesrat beschloss in seiner Sondersitzung, die Flüchtlinge zwar einreisen zu lassen, für alle anderen Chilenen aber ab sofort den Visumszwang einzuführen.
Solidarität von unten
In Zusammenarbeit mit italienischen Botschaftsangestellten gelang es später, eine Fluchtroute über Argentinien und Norditalien aufzubauen. Die Flüchtlinge wurden nach ihrer Ankunft in Norditalien in Familien untergebracht und reisten gruppenweise und in Begleitung von Vertretern der Tessiner Freiplatzaktion mit den morgendlichen Pendlerzügen ins Tessin. Von dort aus wurden sie an die Lokalkomitees in der ganzen Schweiz weitergeleitet, die bereits ungeduldig auf "ihre" Flüchtlinge warteten. Auf diese Weise konnten sich schlussendlich über 2000 Chilenen in die Schweiz retten. Rückblickend können wir feststellen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen fast immer gegen den Willen der Regierung durchgesetzt wurde. Es begann damit bereits im 19. Jahrhundert, als die Stadt Grenchen dem italienischen Freiheitskämpfer Mazzini das Bürgerrecht erteilte, um ihn vor der Auslieferung durch den Bundesrat an Italien zu schützen. Wie sich die offizielle Schweiz im Zweiten Weltkrieg verhielt, ist inzwischen bekannt, die Ehrenrettung ist der privaten Solidarität zu verdanken. Sehr gut zusammengefasst hatte dies Max Frisch, aktiver Mitkämpfer der "Freiplatzaktion", als er Bundesrat Furgler in seinem Brief mitteilte: "Sehr geehrter Herr Bundesrat, die Sorge um das Recht auf Asyl ist unsere Sorge, nicht Ihre." Und ein Gemeindevertreter aus dem Kanton Baselland meinte damals: "Wenn fünf chilenische Kommunisten die Ordnung in unserer Gemeinde Titterten bedrohen, dann ist sie wirklich nicht viel wert" .