Aus verschiedenen Gegenden Frankreichs erreichen uns Aufrufe von Gelbwesten. Zum Beispiel der folgende Text aus der Region Tarn in der Nähe von Toulouse im Südwesten Frankreichs, der tief greifende gesellschaftliche Fragen aufwirft.
Wir stehen mit unserem Aufstand vor einer wichtigen Entscheidung. Entweder wir verteidigen – ob wir möchten oder nicht – die Welt in ihrer momentanen Existenz, oder wir suchen einen Ausweg aus dieser selbstzerstörerischen Welt.
Der Funken, der das Feuer der «Gilets Jaunes»(gelben Westen) entzündet hat, war wirtschaftlicher Art: Die ständige Erhöhung des Benzinpreises und damit einhergehend ein weit verbreitetes Gefühl von finanzieller Gelähmtheit. Seither ist die Problematik der niedrigen Einkommen und der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit präsent; der Aufstand hat jedoch eine politischere Richtung eingeschlagen: Kritik an der herrschenden Klasse, Verurteilung ihrer Verachtung des einfaches Volks, das nicht den geringsten Einfluss auf die grossen Entscheidungen nehmen kann. Diffuse Kritik an der repräsentativen Demokratie, mehr oder weniger radikale Forderungen nach Mitteln, an der Politik und den Beschlüssen teil zu nehmen. Aber wenn auch die Notwendigkeit, unsere Gewohnheiten und die politischen Institutionen neu zu organisieren sehr breit in der Bewegung diskutiert wird, so kommt jedoch die Notwendigkeit einer anderen wirtschaftlichen Organisationsform sehr wenig zur Sprache: Aber vielleicht sollten wir unsere (Über)-Lebensarten, unsere Formen der Produktion und des Austausches neu organisieren?
Wir alle spüren die Gewalt der wirtschaftlichen Zwänge und beschweren uns darüber zumeist beim Staat, nicht jedoch bei den Unternehmen. Und wir sprechen kaum über Möglichkeiten auf lokaler Ebene solidarischer untereinander zu sein, einen grossen Teil unserer Lebensmittel wieder in der Region zu produzieren, in der wir leben, so dass die wirtschaftlichen Verhältnisse durch ethische, moralische und politische Beweggründe reguliert werden können. Es wird oft gesagt, dass die aktuelle Bewegung aus den Randregionen kommt, teilweise vom Land. Die Bewohner·innen dieser Regionen haben in letzter Zeit oft geklagt, dass sie sich vom Staat verlassen fühlen, dass sie den Eindruck hätten, ausserhalb der Produktion und des Umlaufs der Reichtümer dieser Welt zu leben. Aber wären wir nicht fähig, gemeinsam, da wo wir leben, einen grossen Teil der «Reichtümer» zu produzieren, die wir wirklich brauchen, um würdig zu leben? Niemand regt uns dazu an, nichts in der sozialen Organisation ist dafür eingerichtet. Im Gegenteil, Holz wird nach China geschickt um es in Form von Möbeln wieder zu importieren. Dasselbe gilt für Tomaten und und vieles mehr. Obwohl: Das weniger industrialisierte Hinterland Frankreichs ist reich, voller potentieller Ressourcen. Was uns fehlt, ist die Organisation des Alltags, die es erlauben würde, Gemüse, Fleisch, Getreide, Öl, Holz, Bau- und Isolationsmaterial, das wir hier um uns herum haben, zu nutzen.
Traditionen neu erfinden
Unsere Landregionen sind auch reich an Traditionen wie gegenseitige Hilfe, bäuerliche Praktiken und dörfliche Zusammenarbeit, die aber nach und nach verschwunden sind – seit wann eigentlich? Vielleicht ist es noch gar nicht so lange her. Sicher ist, dass wir sie wieder zum Leben erwecken müssen, sie neu erfinden, diese Traditionen, um dem unumgänglichen Rückgang des industriellen Wirtschaftswachstums, den klimatischen Veränderungen und der politischen Wirrnis die Stirn zu bieten. All diese Umbrüche werden dazu führen, dass sich die Wirtschaftsfrage nicht mehr ausschliesslich in finanziellen und währungspolitischen Begriffen stellen wird; es wird vielmehr um Existenzgrundlagen gehen: Werden wir imstande sein unsere Grundbedürfnisse auf lokaler Ebene zu befriedigen, ohne dass dabei Chaos und Krieg von allen gegen alle entsteht? Wir stehen also vor der Wahl, die Welt zu verteidigen, so wie sie ist, indem wir die Aufrechterhaltung des westlichen Lebensniveaus vom Jahr 2000 einfordern: Eine Welt, in der die Logik der Macht, der Rentabilität, der Privatisierung dominiert, in der exzessiv Strom verbraucht wird, unsere Umwelt durch die industrielle Landwirtschaft zerstört wird, die Städte und Einkaufszentren endlos vergrössert werden, und wir immer mehr unter Druck gesetzt und voneinander isoliert werden durch die Informatisierung der Arbeit. Oder aber wir suchen einen Ausweg, indem wir andere Möglichkeiten erfinden, zu leben und zu produzieren; die mehr mit dem zu tun haben, was unsere Urgrosseltern und andere Vorfahren machten. Das erfordert jedoch sehr viel gegenseitige Hilfe, eine gewisse Einfachheit, aber auch eine bessere Beherrschung unserer tagtäglichen Verrichtungen und des Systems, das uns ernährt, uns wärmt und uns transportiert. Durch eine solche Gestaltung der Welt könnte sich eine echte Demokratie entfalten. Die politische Selbstorganisation setzt eine wirtschaftliche Selbstorganisation voraus und umgekehrt. Wir können die Machtverhältnisse nur ändern, indem wir den grossen öffentlichen und privaten Organisationen unseren Lebensunterhalt entziehen. Land und Freiheit!
Einige Tarnwesten, Mitte Januar 2019