Die Lektüre von Werken gesellschaftskritischer Autoren ist im allgemeinen ein mühseliges Geschäft – man muss sich durch dickleibige Bücher hindurch kämpfen, meist geschrieben in einer schwerverdaulichen Sprache, oft zusätzlich noch angereichert durch Bezugnahmen auf andere dickleibige Schriften, von denen der Leser noch nie etwas gehört hat.
Eine Ausnahme bildet der hier rezensierte schmale Band mit Texten der Exit-Gruppe, der kürzlich in einem süddeutschen Kleinverlag erschien.
Bei den elf Beiträgen des Buches handelt es sich zum Teil um leicht überarbeitete Vortragsmanuskripte, zum Teil um die deutschen Originalfassungen von Artikeln für die internationale Presse, zum Teil um Textmaterial, das im Prozess der gruppeninternen Theoriebildung entstand.
Robert Kurz beschreibt beispielsweise in seinem Beitrag «Der Alptraum der Freiheit » treffend die vielgerühmte bürgerliche Gleichheit als eine Gleichheit von Waren- und Geldbesitzern, dem zufolge beschränkt auf die Sphäre der kapitalistischen Zirkulation. In der Sphäre der Produktion herrsche jedoch die nackte Diktatur: Unter einem effizienten Regime kapitalistischer Betriebswirtschaft dürften Arbeiterinnen und Arbeiter «nicht einmal selbständig pinkeln gehen ». Die moderne bürgerliche Freiheit wäre also identisch mit einer anonymen Form der Knechtschaft, die Gleichheit innerhalb der kapitalistischen Moderne sei selbst ein Herrschaftsverhältnis.
Roswitha Scholz geht in ihrem Beitrag «Die Theorie der geschlechtlichen Abspaltung und die kritische Theorie Adornos » auf die Geschlechterverhältnisse unter den Bedingungen des Patriarchats in der warenproduzierenden Gesellschaft ein. Die weibliche Reproduktionstätigkeit wie Haushalt und Kindererziehung hätte sich der kapitalistischen Verwertung von Beginn an entzogen. Mit zunehmender Krise der warenproduzierenden Gesellschaft käme es nun zum Phänomen der «Verwilderung des Patriarchats »: Immer öfter sässen Frauen und Kinder in Elendsgebieten fest und versuchten dort, die einfache Reproduktion aufrechtzuerhalten, während die Männer in ihrer verzweifelten Jagt nach Jobs über den ganzen Globus vagabundierten.
Jörg Ulrich polemisiert u.a. in seinem Beitrag «Der philosophische Hofnarr im Kristallpalast » gegen den Philosophen Peter Sloterdijk und dessen neustes Buch «Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung ». Sloterdijks völlig kritiklose Heiligsprechung der kapitalistischen Warenwelt als «posthistorische Zivilisation » beruhe - so Ulrich - auf «von kaum einem Funken Kenntnis getrübten ökonomietheoretischen Seifenblasen », sei pure Selbstreflexion des spätkapitalistischen Wohlstandsbürgers, für den sich die für ihn wahrnehmbaren Probleme der Welt auf «Shoppen und Ficken » reduzieren ließen. Die auf wenige Seiten zusammengedrängte scharfzüngige Demontage des «bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart » ist ein boshaftes Lesevergnügen – auch für Leute, die Sloterdijks Bücher nie im Leben aufschlagen würden.
Auf die weiteren Beiträge des Buches soll hier nicht näher eingegangen werden. Nur soviel: Die Mehrzahl der Texte ist erstaunlich flüssig und leicht verständlich geschrieben, für Neulinge demzufolge ideale Einstiegslektüre in die geheimnisvolle Welt der Wertkritik. Und wem der Preis des Büchleins noch immer zu hoch ist, dem sei hier verraten, dass die im Band abgedruckten Texte unter <www.exit-online.org> auch aus dem Internet abgerufen werden können.
Gerd Bedszent
Robert Kurz / Roswitha Scholz / Jörg Ulrich «Der Alptraum der Freiheit – Perspektiven radikaler Gesellschaftskritik»,
Verlag Ulmer Manuskripte (www.ulmer-manuskripte.de), Blaubeuren / Ulm 2005, ISBN 3-934869-38-6, 141 Seiten, 12,80 euros