Der folgende Artikel versucht, einen Überblick über die Situation in einigen lateinamerikanischen Ländern zu geben. Er ist das Ergebnis von Zusammenkünften, Gesprächen und Lektüren während des 3. Weltsozialforums und danach.
Die USA treiben ihre Beherrschung der Welt mit der klaren Absicht voran, sich Bodenschätze wie Erdöl, Gold, Uranium, Erdgas usw. anzueignen. Die Medienscheinwerfer sind auf die arabische Welt und den Krieg im Irak gerichtet. Doch selbst wenn Lateinamerika im Schatten der neuesten Fernsehmode bleibt, so ist der amerikanische Druck dort stark spürbar. Der Widerstand der BevölkerunAg dagegen ist so intensiv wie zumindest seit den siebziger Jahren nicht mehr.
Um die Situation Südamerikas zu verstehen, muss man die Besonderheiten jedes einzelnen Landes untersuchen, sowohl auf politischer Ebene als auch in bezug auf die Bodenschätze, die sozialen Strukturen und die Geschichte. Bolivien mit seinen 80 bis 90 Prozent indianischer Bevölkerung und wenig Bodenschätzen hat nichts zu tun mit Venezuela, dem zweiten Erdöllieferanten der USA oder Brasilien, das trotz riesiger interner Niveauunterschiede an zehnter Stelle der Wirtschaftsmächte der Welt steht.
Eines haben dieses Länder jedoch gemeinsam, wenn auch von lokalen Besonderheiten gefärbt: Sozialbewegungen und politische Parteien, die an Wahlen teilnehmen und sogar mit Hilfe dieser Bewegungen an die Macht kommen. Hugo Chavez 1999 in Venezuela, Oberst Gutierrez 2002 in Ecuador, Lula 2003 in Brasilien, Evo Morales, der 2002 bis zum zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Bolivien kam – hinter ihnen stehen Volksbewegungen, auch wenn man die Unterstützung von Chavez, die er selbst "von oben" entstehen ließ, nicht auf dieselbe Ebene stellen kann wie die Wahl Lulas, der aus der trotzkistischen Arbeiterpartei hervorgegangen ist, die schon seit langen Jahren mit christlichen Basisbewegungen und der mächtigen Landlosenorganisation MST (15 bis 20 Millionen Personen) alliiert ist.
Es zeichnet sich ein Staatenblock ab, der sich dem amerikanischen Imperialismus widersetzt - man vergesse bei dieser raschen Aufzählung auch Cuba und seinen redegewaltigen Lider Maximo nicht. Aber dieser Block darf auch nicht idealisiert werden. Wir leben nicht mehr in Zeiten des Kalten Krieges. Der Widerstand gegen die amerikanische Offensive hat vielerlei Formen angenommen, doch er ist nicht immer koordiniert.
Venezuela, Brasilien, Ecuador
In Venezuela ist es zwei Mal beinahe zum Bürgerkrieg gekommen. Das erste Mal beim von der CIA "unterstützten" Putschversuch der Unternehmergewerkschaft Fedecamaras im April 2002. (Der Putsch war sofort von den USA und von Javier Solanas, dem europäischen Kommissar für Äußeres, begrüßt worden.) Das zweite Mal beim sogenannten Generalstreik, der zwei Monate dauerte, und aus dem Chavez schließlich gestärkt und die Opposition gespalten hervorging.
Lula hatte schon vor seiner Wahl direkt mit der Bush-Administration und dem Internationalen Währungsfonds verhandelt. Er will keine frontale Auseinandersetzung mit den USA, was ihn in eine schwierige Position gegenüber den Bewegungen versetzt, die ihn an die Macht gebracht haben. Die Spannungen innerhalb der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores ) wachsen, Stimmen an der Basis, aber auch von gewählten Volksvertretern, kritisieren die "konservative Revolution" Lulas. Anfang März hat die MST neue Landbesetzungen begonnen, was von der PT, die zum Dialog aufruft, kritisiert wird. Lulas "Schonzeit" scheint nicht lange gedauert zu haben.
Nun zu Ecuador. Dieses Land besitzt Erdöl. Oberst Gutierrez wurde 2002 zum Präsidenten gewählt mit der Unterstützung fast aller Sozialbewegungen, insbesondere der mächtige CONAIE (Koordination der Indigena-Gruppen), die große Demonstrationen organisiert hatten. Doch Gutierrez hat nicht die Statur eines Chavez oder Lula. Er führt einen populistischen Diskurs, der einigen Organisationen gefällt – vor allem den Gruppen, die gerne ein Stück vom Kuchen der Macht hätten – der aber nicht derselbe ist, den er im Weißen Haus hält, wenn es zum Beispiel um den amerikanischen Militärstützpunkt Manta (1) geht. Einige Indigena-Gruppen hatten während der Wahlkampagne seine Auflösung gefordert. Wenn man die Größe des Landes und die makroökonomische Situation betrachtet, kann man sich schwer vorstellen, wie Gutierrez das anstellen sollte, oder selbst nur wie er die amerikanischen Soldaten daran hindern könnte, von Manta aus in Kolumbien zu intervenieren. In den kommenden Wochen könnten sich die Bewegungen, die Gutierrez unterstützt haben, gegen ihn wenden.
Dies zu den Ländern, in denen es zu bedeutenden politischen Veränderungen gekommen ist und wo heute nicht mehr die bourgeoisen Mafias, die seit Generationen die Geschicke dieser Länder lenken, an der Regierung sind.
Bolivien
In Bolivien musste die Regierung in den letzten Jahren mehrere Male dem Druck der Volksbewegungen nachgeben: 1999/2000 Kampf gegen die Privatisierung des Wassers, 2001/2002 Kampf gegen das Verbot, Coca-Blätter anzubauen, 2003 Kampf gegen die vom IWF geforderte Erhöhung der Steuern. Trotz einer massiven Repression (an die dreißig Toten im Januar und Februar 2003 und Hunderte von Gefangenen) gelang es ganz verschiedenen Gruppierungen (städtische und ländliche Gruppen, Jugendorganisationen...) sich zu vereinigen. Diese Bewegungen haben ihre politische Vertretung durch die MAS (Bewegung zum Sozialismus) und durch den Anführer der Cocaleros (2) Evo Morales, der den Amerikanern ein gewaltiger Dorn im Auge ist. Kurz nach dem 11. September erklärte der US-Botschafter in La Paz: "Herr Morales muss sich nicht wundern, wenn ihm etwas zustößt". Mitte März denunzierte die MAS eine von der CIA lancierte Pressekampagne, die das Terrain und die Stimmung für die Eliminierung des Cocalero-Führers vorbereiten sollte.
Argentinien, Kolumbien
Diese beiden Länder heben sich auf ganz verschiedene Weise von den anderen ab. Nach dem Bankrott Argentiniens und dem Volksaufstand vom 19. und 20. Dezember 2001 gibt es dort eine starke Selbstverwaltungsbewegung (3). Es ist zweifellos das einzige Land in dieser Region, wo horizontale, nicht hierarchische und parteienunabhängige Bewegungen als solche im Rahmen der sozialen Kämpfe eine starke Präsenz haben. In den anderen Ländern, die wir erwähnt haben, sind die Bewegungen eher zentralisiert und hierarchisch organisiert. In den besetzten Betrieben oder bei den Piqueteros scheint eine gewisse linke Tradition überwunden zu sein, auch wenn es sie hie und da noch gibt. Diese selbstverwalteten Bewegungen sind noch relativ schwach. Der politische und organisatorische Lernprozess braucht viel Zeit. Doch Zeit haben sie, denn selbst vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen gibt es kurzfristig keine Lösung für Argentinien.
Die Offensive der USA besteht in der Schaffung der ALCA (4) und der Militarisierung des gesamten Kontinents. Eine großangelegte Militärintervention in der nächsten Zeit ist nicht auszuschließen, und sollte sie stattfinden, wird es zu einer "Vietnamisierung" der Situation in Kolumbien kommen.
2001 wurde Alvaro Uribe mit einem rechtsextremen Programm zum Präsidenten gewählt. Er versprach, den schon 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg zu beenden (eine Million Tote, zwei Millionen interne Flüchtlinge). Es gibt zwei Guerillabewegungen, die FARC (marxistisch-leninistisch) und die ELN (guevaristisch). Ihnen gegenüber stehen die rechtsextremen paramilitärischen Gruppen, die kolumbianische Armee (von denen viele beiden Formationen angehören) und der Staat. Auch wenn die FARC historisch gesehen dagegen war, ist sie heute in den Drogenhandel verwickelt, der Staat und die paramilitärischen Organisationen kontrollieren den Großteil davon. Neben den bewaffneten Gruppen gibt es Bewegungen (Indigenas, Afro-Kolumbianer, Bauern), die sich oft im Kreuzfeuer wiedergefunden haben. Im Jahr 2000 lancierten die USA mit Unterstützung der Europäischen Union den Kolumbien-Plan (5), offiziell, um gegen den Drogenhandel zu kämpfen. Nach dem 11. September erlaubte der amerikanische Kongress, dass die Militärhilfe in Kolumbien zum Kampf gegen den Terrorismus, d.h. gegen die Guerilla eingesetzt würde (Kolumbien erhält nach Israel und Ägypten die größte militärische Unterstützung der USA). 2001 hatte die Regierung Pastrana den Dialog mit der FARC abgebrochen und die Kontrolle über die entmilitarisierte Zone (so groß wie die Schweiz), welche die FARC seit drei Jahren besetzten, übernommen. Der Konflikt verschärfte sich, die FARC änderte ihre Strategie. Bisher war sie im ländlichen Gebiet verankert und stützte sich, manchmal gewaltsam, auf die Bauern. Jetzt organisiert sie auch bewaffnete Aktionen in den Städten, sogar mitten im Zentrum von Bogota.
Der Präsident Uribe führt geheime Verhandlungen mit den paramilitärischen Gruppen und verweigert jede Diskussion mit der FARC. Zusätzlich versucht er, ein Netz von einer Million bezahlten Spitzeln auf die Beine zu stellen. Kürzlich bat er um eine Erhöhung der amerikanischen Militärhilfe. Die Amerikaner sandten 70 Ausbilder für die kolumbianische Armee. Im Februar schoss die FARC ein Flugzeug ab und nahm drei CIA-Agenten fest, die sie gegen ihre Gefangenen austauschen wollen. Die USA haben angekündigt, dass sie bereit sind, ihre Infrastrukturen – vor allem in bezug auf Erdöl – zu verteidigen.
Eine Anhäufung von Elementen, die auf eine großangelegte Militäraktion schließen lassen könnten, durch die nebenbei auch in Venezuela und Bolivien die "Ordnung" wiederhergestellt und die Beherrschung des Kontinents durch die USA gefestigt würde.
Dies zu dieser historischen Epoche, die Lateinamerika erlebt, gesehen durch das Prisma eines weißen Europäers. Es gäbe noch viel zu sagen, aber dazu müsste man ein Buch schreiben. In den nächsten Ausgaben des Archipel werden wir näher auf die Situationen in den verschiedenen Ländern eingehen.
Amerikanischer Militärstützpunkt im Rahmen des Kolumbien-Plans
Kleinbauern, Cocaproduzenten
siehe Archipel Nr. 101, Januar 2003, Artikel über Argentinien
Amerikanische Freihandelszone: Die Verhandlungen haben begonnen, und die USA hoffen, dass diese 2004 abgeschlossen sein werden. Was in Nordamerika durch die ALENA bereits in Kraft ist, soll auf den südamerikanischen Kontinent ausgedehnt werden.
Kolumbien-Plan: zwei Milliarden Dollars von Washington in Form von Waffen, Brüssel finanziert mit vier Milliarden die zivile Hilfe, d.h. die Lager für die vertriebene Bevölkerung.