Im Jahre 1990 wurde das tschechisch-slowakische Helsinki-Komitee in Prag gegründet. Unter dem kommunistischen Regime traten die Dissidenten für die Durchsetzung der Bürgerrechte und für eine freie Gesellschaft ein. Heute umfasst die Organisation offiziell eine slowakische und eine tschechische Sektion.
Die 15 vollamtlichen MitarbeiterInnen arbeiten über die Grenze der beiden neu entstandenen Staaten zusammen. Die Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte steht als solche nicht mehr zur Diskussion, wohl aber der Umgang mit diesen. Das Komitee hat drei Hauptaktivitäten. Erstens, die Einhaltung der Menschenrechte zu prüfen, zu ergänzen und der aktuellen Situation anzupassen. Die zweite, ganz wichtige Aufgabe ist die Menschenrechts-Erziehung. Diese stellt in allen postkommunistischen Gesellschaften keine Selbstverständlichkeit dar. Drittens gibt es die juristische Ebene: Jede und jeder kann sich kostenlos beraten lassen. Wenn es sich um Menschenrechtsfragen handelt, kann das Komitee JuristInnen und andere ExpertInnen heranziehen, die sich in Fragen bezüglich Frauen, Kindern, AusländerInnen, Roma, Minderheiten und vielem mehr auskennen.
Das Komitee publiziert zudem jährlich den Menschenrechts-Report zur aktuellen Situation in Tschechien und in der Slowakei. Zur Zeit befinden sich die MitarbeiterInnen in einer sehr zwiespältigen Lage. Da die beiden Länder offiziell noch nicht Teil der EU sind, ist der Staat nicht verpflichtet die Arbeit des Komitees zu finanzieren. Private GeldgeberInnen hingegen gehen davon aus, dass jetzt Demokratie herrscht und es daher keine dringende Notwendigkeit mehr zur Unterstützung der Projekte gibt: Keine gute Zeit für NGO’s! Dabei gibt es viel zu tun. Die JuristInnen des Komitees sind zur zentralen Anlaufstelle für gesellschaftliche Fragen geworden: Gleichberechtigung am Arbeitsmarkt, Homosexualität, Resozialisierung jugendlicher Strafgefangener, Integration von AusländerInnen. Zur Zeit gibt es noch keine zuständigen Stellen für diese Fragen, um die sich eigentlich der Staat kümmern müsste. Die MitarbeiterInnen des Helsinki-Komitees haben diesbezüglich schon viel Erfahrung und kennen die Probleme der Menschen vor Ort. Daraus hat sich auch ihr starkes Engagement für die gesamte juristische Reform ergeben, die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen nötig geworden ist.
Die auswegslose Situation der Roma
Das schwierigste Problem ist nach wie vor die Situation der Roma. Dieses wird auch vom Ausland am stärksten wahrgenommen. Die EU ist bereit, für Projekte finanzielle Mittel bereitzustellen. Doch wichtiger als Geld ist es, die richtigen Leute vor Ort zu haben. Es genügt nicht, wenn gesagt wird: "Setzt die EU-Standards für Minderheiten um."
Die Problematik ist komplex. Sie fängt schon bei der Trennung der Schulkinder an. Romakinder werden ab der ersten Klasse in Extraschulen geschickt, wo der Unterricht miserabel ist. Damit fängt der Teufelskreis an: schlechte Ausbildung, kein Job; dadurch die Gefahr, in die Kriminalität abzudriften, Leben im Ghetto. Romafamilen finden nur schwer eine Wohnung. Viele leben auf der Straße, weil sie gar nicht wissen, dass es z.B. provisorische Unterkünfte gibt. Viele Informationen dringen nicht einmal bis zu ihnen vor. Das Komitee hat immer offene Ohren für die Probleme der Betroffenen. Gemeinsam mit ihnen versucht es dann, Lösungen zu finden. Im letzten Sommer richteten die britischen Behörden sogenannte "Clearingstellen" auf den Flughäfen ein. Dabei ging es ihnen darum, die Roma unter allen Umständen an der Einreise nach Großbritannien zu hindern. Die Schikanen der Einwanderungsbehörde waren erfolgreich: Die Roma sahen resigniert von ihren Reisezielen ab. Durch ihre tägliche Präsenz und hartnäckige Interventionen konnten VertreterInnen des Helsinki-Komitees zwar nicht die Einreise erzwingen, erreichten aber, dass die britische Regierung einen namhaften Geldbetrag bereitstellte, um damit Gemeinden mit hohem Roma-Anteil in Tschechien zu unterstützen.
Ein neuer EisernerVorhang gegen Flüchtlinge und MigrantInnen
Ein weiteres Arbeitsfeld des Komitees ist die Frage der Flüchtlinge und ImmigrantInnen. Die Situation hat sich grundlegend verändert, nachdem Österreich und Deutschland per Gesetz die Tschechische Republik als sicheres Drittland erklärt hatten. Jeder Flüchtling kann also aus diesen beiden Ländern nach Tschechien abgeschoben werden, bevor er auch nur die Chance hatte, einen Asylantrag in einem EU-Land zu stellen. Es war voraussehbar, dass Tschechien die gleiche Methode anwenden wird. Die Ostgrenzen werden mit Unterstützung der EU-Behörden dicht gemacht. Die Grenzen zwischen Tschechien, Österreich und Deutschland werden dagegen auch nach dem Beitritt nicht schlagartig offen sein. Denn es wird noch lange dauern, bis das Schengener Abkommen unterzeichnet ist. Bis dahin wird die EU ihre Kräfte darauf konzentrieren, die Menschen bereits an der Einreise nach Tschechien zu hindern. Bei einem Treffen in Slowenien, wo es um die Schengener Außengrenzen und die Betrittskandidaten ging, wurde bekannt, dass die EU sogar bereit ist, Serbien als sicheres Drittland zu bestimmen. Flüchtlinge, die via Serbien nach Europa wollen, werden dorthin zurückgeschickt. Tschechien selbst praktiziert bereits teilweise die "sichere Drittland-Regelung" gegenüber Nachbarstaaten. Flüchtlingen, die aus Anrainerländern in die Republik einreisen, wird es schwer gemacht, einen Asylantrag zu stellen. Sogar auf dem Flughafen gibt es seit Neustem ein Lager für Schubhäftlinge, so dass auch dieser – direkte - Weg, in ein Asylverfahren zu gelangen, eingeschränkt ist. Die MigrantInnen stellen sich inzwischen darauf ein, dass Tschechien bald EU-Mitglied sein wird. Vor sechs Jahren haben 2000 Menschen pro Jahr um Asyl angesucht. 70 Prozent von ihnen verschwanden jedoch, bevor das Asylverfahren abgeschlossen war. Tschechien war lediglich Transitland. Heute sind es ungefähr 10.000 AsylbewerberInnen pro Jahr und davon ziehen nur 30 Prozent weiter. Es gibt bereits eine deutliche Verlagerung.
Illegal und ausgebeutet
Die "Struktur- und Gesetzesanpassung" an europäische Standards hat bereits spürbare Veränderungen im Land bewirkt. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ähnelt der des Westens - vor allem, was ihre Schattenseiten betrifft: Mafiaähnliche Kreise bringen die illegalen ArbeiterInnen ins Land, die sich dann in einer besonders prekären Lage wieder finden. Die sogenannten Arbeitsvermittler nehmen ihnen die Pässe ab und geben sie ihrem Boss weiter. Dieser braucht der Fremdenpolizei nur einen Wink zu geben und die Leute verlieren bei der Kontrolle sowohl ihren Job als auch ihren Pass. Sie werden unverzüglich außer Landes geschafft. Diese Praxis ist gang und gäbe, vor allem im Bausektor, meistens zwei Tage vor der Lohnauszahlung. Diese Branche steht und fällt mit den ukrainischen Arbeitskräften. Aber es waren gerade die Baufirmen, die sich gegen eine legale Beschäftigung über eine Quotenregelung lautstark wehrten. Sie profitieren auf skrupellose Weise von der schwierigen Situation der Betroffenen. Etliche Illegale haben einen Hochschulabschluss oder eine fertige Berufsausbildung, es gibt auch viele Studenten und Studentinnen. Doch ihre gute Ausbildung schützt sie nicht z.B. vor einem 15 Stunden-Arbeitstag im Gastgewerbe ohne geregelte Freizeit und ohne Chancen, die Kinder nachzuholen. Wie kann man sich dagegen wehren? Viele wenden sich Hilfe suchend an das Helsinki-Komitee. Früher konnten AusländerInnen ihren Status legalisieren, sobald sie nachweisen konnten, dass sie eine Unterkunft und eine Arbeit hatten. Seit dem Januar 2000 ist dies viel komplizierter geworden: Der einzige Weg zu einem legalen Aufenthalt führt über eine tschechische Botschaft im Ausland. Es ist nicht möglich, den Antrag im Land selbst zu stellen, auch wenn der Betroffene eine Beschäftigung und eine Unterkunft hat. Das gilt auch für AusländerInnen, die schon fünf oder sieben Jahre hier leben. Wenn sie ihre Papiere erneuern müssen, sind sie gezwungen auszureisen, z.B. nach Wien oder nach Bratislava. Dazu brauchen sie allerdings ein Visum und dieses bekommen sie wiederum nur mit gültigen Papieren. Also können sie sich gar nicht auf eine tschechische Botschaft begeben, um ihre Papiere zu regeln: eine kafkaeske Situation.
Es ist jedoch positiv zu vermerken, dass die sozialdemokratische Regierung Tschechiens diesbezüglich einige Anstrengungen unternimmt: Nächstes Jahr soll ein Pilotprojekt zur besseren Integration ausländischer FacharbeiterInnen starten. Es gibt bereits bilaterale Abkommen über Sozialleistungen, wie z. B. Pensionsauszahlungen mit vielen Nachbarstaaten; Polen, die Ukraine, Russland und auch Bosnien-Herzegowina gehören dazu. Tschechien verfügt über ein soziales Netz, das mit dem der EU-Länder durchaus vergleichbar ist. Es muss jedoch immer wieder auf den neuesten Stand gebracht werden. Vorrangig wäre es jedoch, zu verhindern, dass dieses Netz vielfach unterlaufen wird.
Spaltpilz EU?
Zu zusätzlichen, enormen Problemen wird es kommen, wenn die Slowakei nicht gemeinsam mit Tschechien der EU beitritt. Dann entsteht eine Schengen-Außengrenze zwischen diesen beiden Ländern. Auch nach der Teilung der Tschechoslowakei Ende der neunziger Jahre in zwei unabhängige Staaten, gibt es enge Verflechtungen. Gegenseitige Abkommen ermöglichen es TschechInnen und SlowakInnen, unbürokratisch im Nachbarland zu arbeiten und zu wohnen. In 70 Jahren gemeinsamer Geschichte sind Familien gewachsen und gemeinsamer Besitz entstanden, so dass sich die meisten BürgerInnen eine quasi geschlossene Grenze zwischen den beiden Ländern nicht vorstellen können. Viele gehen immer noch von einem gemeinsamen Beitritt zur EU aus, auch wenn dies im offiziellen Fahrplan nicht vorgesehen ist. Die EU darf ihre Probleme nicht einfach zum nächsten - in diesem Fall - schwächeren Nachbarn abschieben, ohne Rücksicht auf lokale Strukturen und Bedürfnisse. Damit stehen Tschechien und die Slowakei nicht alleine da.
Für alle Betroffenen und Interessierten hat das Helsinki-Komitee in Prag eine zum Teil digitalisierte Bücherei aufgebaut. Texte zum Umgang mit Bürger- und Menschenrechten im weitesten Sinne sind dort in vielen Sprachen zugänglich.
Wird die Erweiterung der EU für die Neuankömmlinge und deren noch "unreife" Nachbarn zur wirklichen Chance oder zu einem neuen Alptraum? Diese Frage können die Bürgerinnen und Bürger in Ost und West nur gemeinsam beantworten, indem sie nicht aufhören, ihre Rechte einzufordern und sie wahrnehmen.
Nach einem Interview mit Selma Muic Distarevic und Anna Gruscowa, Mitarbeiterinnen des tschechisch-slowakischen Helsinki-Komitees (Quelle: Europa von unten, Monatssendung der Zeitung Archipel, Ausgabe 32, Dezember 2002).