(…) Österreich ist die Farce, die eine Tragödie ankündigt. Wenn demokratisch wenig gefestigte Länder, die noch vor einem Vierteljahrhundert hinter dem Eisernen Vorhang seufzten, in den Wirren ihrer jugendlichen befreiten Kraft, aus Frust darüber, trotz Verwestlichung der Profite nicht an den westlichen Lebensstandard anzuschliessen, und im Angesicht ihrer unglaubwürdig gewordenen Eliten dem weltweiten Trend zum Autoritarismus verfallen, mag man das ja hinnehmen, ja sogar verstehen. Aber Österreich, die Insel der Seligen, das Kreisky-Land, wo Milch und Honig flossen und der soziale Friede wie ein Zuckerguss aus Konsens über allem lag, das neutrale Ländchen, das sich mit Ski-Siegen zufriedengibt und beim Fussball verlässlich Punkte liegenlässt, Österreich seit mehr als zwanzig Jahren Mitglied der EU, seit mehr als siebzig Jahren wieder Demokratie, eines der reichsten Länder der Erde noch dazu, was bedeutet es, wenn sich in diesem Österreich die Rechte anschickt, die Macht zu übernehmen? Die Risse im Zuckerguss nehmen sich umso schartiger und scharfkantiger aus, der Geruch, der ihnen entströmt umso muffiger, als der Zuckerguss allzu lange dichthielt und erstickend wirkte. (…)
Auf einmal war die Empörung über eine Verfahrensweise gross, die bei jeder bisherigen Wahl genauso angewendet worden war. Die Institution der Briefwahl als solche und deren Ergebnis wurden angezweifelt, weil Hofer dort schlechter abschnitt als Van der Bellen. (…) Durch frühzeitiges Öffnen der Kuverts, so die Hauptbeschwerde des anfechtenden Anwalts Böhmdorfer, wurden diese Stimmen ungültig. Wohlge-merkt, es wurde keine einzige abgegebene Stimme manipuliert. (…) Der Rechtsstaat Österreich schien in Gefahr. Wenn er gewusst hätte, welche Schlampereien da am Wahlsonntag abliefen, kein gewählter Mandatar hätte mehr ruhig schlafen können. Österreich, der schlampige Unrechtsstaat, wurde sichtbar. Weit hast du es gebracht, josefinisches Beamtenethos! Generationen von Präsidenten, Bundespräsidenten, Obergerichtshofpräsidenten, Fussballpräsidenten drehten sich im Grab um. (…)
Der grosse Bluff hatte Erfolg. Tiefernst traten die Verfassungsrichter vor die wartende Menge und verkündeten mit Verkündigungsgesichtern ihren Spruch. Er war nicht schlampig. Die Wahl musste wiederholt werden. (…) Schlamperei, das ist das Böse schlechthin. Dagegen sind Terrorismus, Korruption und Massenbetrug bloss Lercherln1. Schlamperei zulassen, wo kommen wir da hin? (…) Die internationale Wirkung hingegen, dass ein grüner Kandidat mehr als fünfzig Prozent aller Stimmen erhielt und einen Faschisten vom Amt fernhielt, in einer ganz spezifischen Situation in Europa, das war kein geringes Gut und wäre gewiss bei einer Art Güterabwägung vom Gericht zu berücksichtigen gewesen. (…)
Ach Österreich! Europäische Lektionen aus der Alpenrepublik, 170 Seiten, Zsolnay-Verlag, ISBN 978-3-552-05830-9, 16Euro. Das Buch ist erhältlich im Buchhandel oder über Bestellung beim Paul Zsolnay Verlag Prinz-Eugen-Straße 30 A-1040 Wien Tel.: 43-1-505 76 61-0, www.zsolnay.at
- Ein «Lercherl» ist auf österreichisch eine Kleinigkeit, eine Lappalie